Die Revolution der Bäume. H. C. Licht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H. C. Licht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753194868
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Zeit oder eine falsche Hand am falschen Arsch, waren in diesem überemanzipierten Kollektiv schon Grund genug für einen temporären Ausschluss. Aber ein irrlichternder Junkie, der neben seinen provokanten Sprüchen und chaotischen Frauengeschichten auch noch seine Gesinnungsgenossen abzockte, überschritt eindeutig die Toleranzgrenze der sonst so verständnisvollen Gemeinschaft.

      Nachdem man ihn zum dritten Mal auf frischer Tat ertappt hatte, wurde ein Plenum einberufen, das ihn einstimmig als untragbaren Egomanen aburteilte. Daraufhin hat ihn die gesamte linke Szene geschnitten, niemand hat auch nur ein Sterbenswörtchen mehr mit ihm gewechselt. Selbst beim Erschnorren eines einigermaßen menschenwürdigen Existenzminimums, wie ein Mittagessen oder ein bisschen Kleingeld, behandelten sie ihn, als ob er aus Luft wäre, ein namenloser Geist. Der Begriff Solidarität war plötzlich zum Fremdwort geworden, von Mitgefühl ganz zu schweigen. Selbst im tiefsten Winter, wo man normalerweise keinen räudigen Hund mehr vor die Tür, hinaus in die eisige Kälte schickte, bot ihm niemand mehr einen Platz zum Pennen an. Selbst die sonst so einladend geöffneten Liebespforten der liebesbedürftigsten, einsamsten Szenebräute, auf die er früher in Notzeiten zuverlässig zurückgreifen konnte, waren plötzlich hermetisch verschlossen. Jo gegenüber verhielten sie sich abweisender als jede eiserne Jungfrau mit Keuschheitsgürtel.

       Nachdem auch dieser Zug abgefahren war, realisierte er, dass er voll im Arsch war. Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er, was wirklicher Hunger war, Hunger nach jedweder Nahrung, nicht nur der Essbaren. Als am quälendsten empfand er das Fehlen von Nähe, dabei vermisste er nicht so sehr die flüchtige Körperlichkeit gelegentlicher erotischer Abenteuer, sondern vor allem die alltäglichen Begegnungen mit Gleichgesinnten, die herzerwärmende Atmosphäre einer Gemeinschaft vertrauter Menschen. Freundschaften waren bisher nicht sein Ding gewesen, denn zum Aufbau solcher Beziehungen gehört das Prinzip des Gebens und Nehmen und eine gewisse Ausgeglichenheit zwischen beiden. Sie setzten das Wahren einer Balance voraus, die auf einen mit allen Wassern gewaschenen User wie Jo eher befremdlich wirkte.

      Erst jetzt, wo er einsam auf weiter Flur stand, wurde ihm klar, dass ein Freund jemand ist, in den man investiert, ohne nach dem Datum der Rückzahlung zu fragen. Dass Freundschaft ein besonderes Geschenk ist und tief empfundene Verbundenheit mit einem Menschen ausdrückt, der immer einen Platz im eigenen Herzen haben wird.

      All diese tiefsinnigen Gedanken gingen Jo damals in seiner misslichen Lage durch den Kopf. Schon die bloße Vorstellung einer motivierenden Umarmung unter Kollegen, die, wenn auch mehr als unwahrscheinliche Möglichkeit, dass aus heiterem Himmel ein sogenannter bester Freund an seiner Seite auftauchte, erschien ihm tröstlich.

      Allerdings begriff er in dieser Situation auch, warum er niemals einen solchen gehabt hatte. Er war ausschließlich mit sich selbst und seiner maßlosen Gier beschäftigt gewesen. Neben diesem unheiligen, nimmersatten Paar blieb kein Platz für ein, wie auch immer geartetes Interesse an seinen Mitmenschen und ihren Bedürfnissen. Die Rolle der Anderen war stets nur die von Erfüllungsgehilfen bei seiner Suche nach brandneuen Kicks gewesen: Höher, schneller, weiter oder besser gesagt, härter, lauter, breiter.

      Die Eiseskälte seiner Einsamkeit war allgegenwärtig, sowohl innerlich, als auch äußerlich prägte sie den tristen Ablauf seiner Tage. Sie war die Hölle auf Erden, zum Sterben schrecklich. Das Ausmaß seiner Isolation empfand er als so umfassend und erschütternd, dass er sie nicht mehr ironisch überspielen konnte. Sie ließ sich weder elegant weg kiffen, noch auf irgend eine andere idiotische Art und Weise leugnen.

      An diesem absoluten Tiefpunkt seines Daseins erkannte er, dass alles miteinander verbunden ist. Angekommen im weinenden Auge seines Schmerzzentrums, blieb ihm nichts anderes übrig, als endlich die Tatsache zu akzeptieren, dass das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit ein wesentlicher Aspekt der Existenz ist, eine ungeschriebene, aber zwingende Gesetzmäßigkeit des Lebens. Im gleißenden Licht dieser Erkenntnis verbrannte sein Hochmut zu Asche, sie zwang sein eitles Gemüt im Nu und radikal in die Knie. Endlich vollkommen ernüchtert, fand er sich auf allen Vieren wieder, um Gnade winselnd wie ein verletztes Tier und glaubte, dass er sich von dieser leidvollen Erfahrung nie wieder erholen würde.

       Doch er hatte sich getäuscht, das Leben ging weiter. Im Nachhinein blieb ihm diese Zeit unverhohlener Einsamkeit als das wesentlichste Lehrjahr seines bisher so gänzlich verpfuschten Daseins in Erinnerung. Ganz auf sich selbst gestellt, musste er sich eine schmerzliche Ewigkeit lang mühselig durchschlagen, bis er schließlich auf einer zweiten, extra seinetwegen einberufenen Vollversammlung Abbitte leisten durfte.

      Sein Publikum war alles andere als ihm wohlgesonnen. Die haben ihn angesehen, als ob er ein Aussätziger wäre, dabei hatte er in seinem dauerbekifften Zustand, der phasenweise einem ausgewachsenen Delirium gleichkam, zumeist gar nicht gewusst, was er tat, war phasenweise kaum noch zurechnungsfähig. Wie heißt das vor Gericht so schön? Im Zweifel für den Angeklagten. Jo war der Meinung, dass ein Eierkopf wie er, einer, der nicht weiß, was er tut, eine zweite Chance bekommen sollte. So ein armer Teufel hat ein verbrieftes Recht auf Absolution, oder?

      Seine Zukunft hing davon ab, dass er das Kunststück fertigbrachte, der aus selbstgefälligen Arschgeigen bestehenden Grand Jury seine Sicht der Dinge zu verklickern. Als sein eigener Anwalt musste er das Schlussplädoyer selber halten, niemand wäre auf die Idee gekommen, sich auf seine Seite zu schlagen und ein gutes Wort für ihn einzulegen.

      Und überhaupt? Was wollten die bloß alle von ihm? Er kann schließlich nichts dafür, dass ihm das Scheitern in die Wiege gelegt wurde. Das macht ihn nicht automatisch zum schlechten Menschen. Man kann doch niemanden für sein angeborenes Naturell verurteilen, ein Affe ist ein Affe und eine Rose eine Rose. Er ist nun einmal als Skandalnudel auf die Welt gekommen, und wenn man so eine eskapistische Ader erst einmal voll ausgebildet hat, ist ein gelegentlicher Griff ins Klo fast unvermeidlich, quasi schon vorprogrammiert und deshalb halbwegs verzeihlich.

      Jo kennt das Prozedere inzwischen wie seine Westentasche. Noch besser weiß er um seinen undankbaren Part in diesem weltumspannenden Gesellschaftsspiel. Im Laufe der Zeit ist er in die Rolle des schwarzen Schafes hineingewachsen und hat sich damit abgefunden, der schwarze Peter, Buhmann und Arsch vom Dienst zu sein. Das überstrapazierte Gewissen der moralisch tadellos funktionierenden Gutmenschen braucht nun einmal einen ausgewachsenen Sündenbock wie ihn, also tat er ihnen den Gefallen und spielte brav seine Rolle.

      Kleinmütig wie ein getretener Hund, wälzte er sich unter ihren kalten, abschätzigen Blicken im Urschlamm seiner Schuld. Eine meisterhafte Darbietung, deren Qualität auf der Echtheit seiner Gefühle basierte, eine Glanzstunde des Method Acting. Er hat alles gegeben; geheult, gebettelt und mit den Zähnen geklappert, um wieder in den solidarischen und hermetisch geschlossenen Reihen der Aktionsgruppe „Natur ist Leben!“ Einlass zu finden. Reumütig nahm er die Lektion in Demut entgegen, ließ öffentlich die Hosen herunter und schämte sich noch nicht einmal dafür. Im Gegenteil, er war überglücklich, endlich Abbitte leisten zu dürfen. Seine Angst, ein weiteres Jahr unter dem Damoklesschwert gesellschaftlicher Ächtung vegetieren zu müssen, fegte jegliche Hemmungen und Anflüge von falschem Stolz kurzerhand beiseite.

      Als Stunden später die bereits scharlachrot verschleierte Sonne die Wipfel der Bäume küsst und purpurne, fein gewobene Wolkenschleier die nahende Dämmerung ankündigen, schaltet Hermann den handlich kleinen, mobilen Dieselgenerator aus, der ihnen tagsüber den notwendigen Strom geliefert hat. Auf dieses Zeichen hin, lassen die Genossen und Genossinnen kollektiv ihre Hämmer fallen und gehen zum gemütlichen Teil der Aktion über.

      Mit routinierten Handgriffen nimmt ein Lagerplatz Gestalt an, in seiner Mitte die traditionelle Feuerstelle. Totholz wird gesammelt und aufgespalten und dann kunstvoll zu einer kniehohen Pyramide aufgeschichtet. Um diese herum nehmen im Nu zwei perfekt abgezirkelte Kreise Gestalt an, einer aus braunrot geäderten, eiförmigen Findlingen, der andere aus dicken, nach Harz duftenden Baumstämmen, die einige Leute aus dem Wald herbei gerollt haben. Selbstverständlich geht der zu Kleinholz zersägte Baum nicht auf das Konto der jungen Leute, zu derlei Grausamkeiten sind sie definitiv nicht im Stande.

      Kaum hat die wohltemperierte Sommernacht den Vorhang zur Außenwelt geschlossen, prasselt bereits ein anheimelndes Feuer in der Mitte der Lichtung. Das zuckende Licht der Flammen zaubert schattige Erscheinungen auf das schweigende Rund der Bäume, tanzende