»Jean!«, kreischt Sam ängstlich. Sie macht einen Schritt auf ihre Tochter zu, bis Precious sie voller Hass anschaut.
»Bewege dich auch nur noch einen Zentimeter und Jean ist tot«, versprüht Precious ihr Gift. Wer ist das? Wer zur Hölle ist diese Frau?
»Mamá«, wimmert Jean unter Precious Griff.
»Precious! Höre auf! Ich flehe dich an! Bitte höre auf!« Sam stehen die Tränen bis zum Hals. Sie kann nicht fassen was sie sieht. Niemals hätte sie geglaubt, dass Precious zu so etwas im Stande ist. Was ist nur aus diesem liebevollem Kind von damals geworden? Wo ist das zuckersüße Mädchen hin? Das Kind, das jubelnd und mit rudernden Armen voller Tatendrang durch das Haus rannte und dabei wie eine Sirene quietschte. Wo ist dieses Kind nur geblieben?
»Ist dir überhaupt bewusst was du damals angerichtet hast, Samantha?«, brüllt Precious wütend.
»Precious, bitte … .« Weinend sinkt Sam auf die Knie. Die Augen behält sie bei ihrer Tochter, die sich noch nicht einmal traut zu atmen. Precious' Waffe liegt noch immer auf ihrem Hinterkopf. Vor lauter Angst beginnt auch sie nun zu weinen.
Was ist nur aus dem Besuch am Grab geworden?
»Matt hat Neve verloren. Matt hat dich verloren. Er hat seine Tochter Jean verloren. Ebenso wie Laura und Jessica, hat unser Vater alles verloren. Mit dem Tod meiner Mutter und deiner scheiß verfickten Flucht hast du alles zerstört, was uns zusammengehalten hätte. Wir hätten es ohne meine Mutter geschafft. Aber du verdammtes egoistisches Arschloch hast nur an deinen Arsch gedacht und hast dich verpisst. Nur weil du mit dem Tod meiner Mutter nicht zurechtgekommen bist.«
»Precious, bitte … ich flehe dich wirklich an, lass Jean in Ruhe. Sie kann doch nichts dafür. Sie hat mit alldem nichts zu tun.« Precious fixiert Sam scharf. Sie wechselt den Blick zwischen ihrer Schwester und der Frau, die sie einmal Mutter nannte.
»Du hast Recht, Samantha. Jean kann nichts dafür. Sie verurteile ich auch nicht, sondern dich.« Blitzschnell nimmt Precious die Waffe von Jeans Kopf, richtet diese auf Sam und drückt ab … .
***
Schreiend schießt Sam im Bett hoch. Verängstigt schlägt sie sich eine Hand auf den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken, legt sich die andere Hand auf ihr rasendes Herz und blickt gleichzeitig zur angelehnten Zimmertür.
Precious wollte die Nacht in ihrem eigenen Bett schlafen. Sie wollte den Verlust eines Familienmitgliedes mit sich alleine ausmachen. Sam fand es nicht gut und förderlich, aber sie konnte ihre Tochter auch nicht davon abhalten.
Während sie mit Jessica zusammen an Neves Bett wachte, rief Laura irgendwann an und teilte ihr mit, dass Marley gestorben sei. Sie wäre zu Sam und Neve nach Hause gefahren um mit dem alten Mann Gassi zu gehen, als sie ihn auf seinem Platz liegend tot vorfand. Er wäre wohl schon vor einigen Stunden von ihnen gegangen.
Sam war in diesem Moment ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert. Sie fing zu weinen an, weil der doofe Kerl einfach so gegangen ist und sich noch nicht einmal verabschiedete. Dieser verdammte Mistkerl, der ihr immer die Kleidung versaute, wenn er wieder verstecken spielen wollte. Dieser blöde Köter, der seine Familie mit allen Mitteln verteidigte und sich nur zu gerne vor seine kleinen Frauchen stellte um sie zu beschützen. Diese Töle, die Neve so viele Jahre begleitet hat. Marley hat sie alle einfach alleine gelassen.
Auch wenn sie gerne bei ihrer Frau geblieben wäre, fuhr sie natürlich nach Hause und kümmerte sich um die Kinder. Sie schaffte es kaum Precious zu beruhigen. Sie weinte schon fast genauso herzzerreißend, wie als sie die Nachricht von der OP ihrer Mutter erhielt. Sie beruhigte sich erst etwas, als sie zusammen mit Sam im Garten ein Grab aushob. Sie schob sogar ihren Vater beiseite, weil er ihnen helfen wollte. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte das mit ihrer Mutter alleine machen, was Sam mit unfassbarem Stolz erfüllte. Der Abschied von dem Racker fiel allerdings niemandem leicht, bis Sam ihre Tochter in den Arm nahm und ihr zuflüsterte, dass Marleys Herz nun in Mummy schlagen würde. Erst als Precious sie verständnislos und überrascht anschaute, wurde ihr bewusst was sie gesagt hat. Und von dem Augenblick an, glaubte sie selbst an diese unbewusste Aussage. Wenn Marley nicht gestorben wäre, würde Neve wahrscheinlich noch immer auf ein Herz warten. Es war Irrsinn, das wusste sie, aber es half ihr. Ihr und ihrer Tochter.
Nun sitzt sie schwer atmend im Bett und versucht den Traum zu verdrängen. Sie spürt Schweiß ihren Rücken hinunterlaufen. Zittrig fährt sie sich durch die Haare. Selbst ihre Kopfhaut ist klitschnass. Das Laken unter ihr, hat sich der ausgetretenen Körperflüssigkeit angenommen und umgibt Sam wie ein klammes Handtuch, widerlich.
Die Bilder, welche der Traum mit sich trug, brennen schmerzhaft in ihrem Kopf. Sie kann keines davon glauben. Niemals, niemals würde Precious ihr den Rücken kehren, egal was passieren mag.
Zitternd und mit laufenden Tränen schiebt sich Sam schwerfällig aus dem Bett. Kaum steht sie aufrecht, glaubt sie zusammenzubrechen. Ihre Beine zitternd wie Espenlaub und weisen keinen Funken Kraft auf. Ihr ganzer Körper ist schwach und kraftlos. Der Traum muss alles von ihr abverlangt haben. Sie muss gekrampft haben, anders kann sie sich diesen Zustand nicht erklären.
Mit aller Kraft die sie aufbringen kann, schleppt sich Sam aus dem Schlafzimmer und schleicht zu Precious hinüber. Sie lächelt erleichtert, als sie den Zwerg schlafend im Bett liegen sieht. Es war alles nur ein Traum. Ein Traum den … .
Kopfschüttelnd verdrängt Sam jeden weiteren Gedanken. Stattdessen erwacht in ihr ein Wunsch; ein Bedürfnis.
Wackelig schleift sie sich die Treppe hinunter, geht an den Tresen und wählt Lauras und Jessicas Nummer. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ertönt Jessicas Stimme völlig verschlafen.
»Hast du mich erschreckt. Ich dachte, dass es das Krankenhaus ist«, murmelt sie schläfrig. Ein raschelndes Geräusch der Bettwäsche versichert Sam, dass sich Jessica von Laura abwendet, um voll und ganz bei ihr zu sein.
»Sam, was ist los?«
»Kannst du bitte herkommen und auf die Kinder aufpassen? Ich muss ins Krankenhaus.« Sam weiß, dass sie um diese Zeit etwas Unwürdiges von Jessica verlangt, aber sie kann nicht anders. Sie muss zu Neve. Sie muss einfach.
»Was? Wieso? Sie haben nicht angerufen. Sam, Neve wird es … .«
»Bitte Jessica, ich bitte dich.« Sam stehen die Tränen in den Augen. Es kostet sie unheimlich viel Kraft auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen. Sie hört Jessica schnaufen, ein weiteres rascheln folgt.
»Was ist los?«, murmelt Laura verschlafen im Hintergrund.
»Ich bin gleich da«, brummt Jessica und legt auf.
***
Wie versprochen, rollt Jessicas Wagen eine halbe Stunde später auf die Auffahrt. Sam wartet keine Begrüßung oder sonst irgendetwas ab und fährt sofort los. Jessica schaut ihr noch verwundert hinterher, betritt dann aber das Haus, damit sie sich um zwei schlafende Kinder kümmert. Mehr als ihren Schlaf im Gästezimmer weiterzuführen, wird sie eh nicht machen brauchen. Die beiden Mädchen sind pflegeleichter, als ein Rudel Faultiere.
***
Erschrocken blickt Sam durch das große Fenster in Neves Zimmer. Panisch hechtet sie zum Tresen der Intensivstation.
»Ist irgendetwas mit meiner Frau passiert?« Sam überschlägt sich fast. Ihre Stimme klingt hektisch und angsterfüllt.
Fragend blickt die Krankenschwester zu ihr hoch, kurz zu Neves Zimmer und dann wieder zu Sam zurück.
»Nein, bei Ihrer Frau gibt es keine Probleme. Sie ist stabil. Es gab keine nennenswerten Veränderungen in den letzten Stunden. Warum fragen Sie?«
»Weil