»Du hast Mum nicht beschützt, Samantha! Wolltest du diesen Fehler bei Jean und mir tatsächlich wiedergutmachen? Hast du allen Ernstes geglaubt, dass du mit deiner Flucht alles ungeschehen hättest machen können? Genau deshalb bin ich damals von dir abgehauen. Ich wollte nicht so feige sein wie du und alle alleine lassen. Ich wollte hier sein und meine Mutter auf ihrem letzten Weg begleiten. Etwas was deine Aufgabe gewesen wäre. Aber du hast wie immer nur an dich gedacht.«
Precious geht auf Sam zu und steht ihr dicht gegenüber.
»Und genau aus diesem Grund gebe ich dir einen gut gemeinten Rat. Verschwinde! Verschwinde und komme nie wieder hierher. Lass meiner Mutter ihren Frieden. Solltest du dich nicht daran halten, Samantha, werde ich dich töten und Jean zwingen sich das anzusehen.«
Jedes einzelne Wort von Precious ist für Sam wie ein Schwerthieb. Jedes einzelne Wort zerfetzt ihre Seele. Jedes einzelne Wort zerfrisst ihr ganzes Sein. Jedes einzelne Wort tötet Sam mehr und mehr.
Wie eine leblose Hülle steht Sam regungslos vor Precious und Damon, schaut sie an und erinnert sich an jeden einzelnen Tag mit ihnen. Wie die beiden ihr Leben bereichert haben. Wie sie von ihnen gelernt hat. Wie sie sie geliebt hat. Wie sie alles für diese beiden Kinder tat. Sie hätte ihr Leben für die Kinder gegeben. Aber das Leben hatte einen anderen Plan. Einen, der Sam hier nun stehen lässt. Einen, der Sam Precious dabei beobachten lässt, wie die bildhübsche Frau an ihr vorbei zu Jean geht. Sams trommelndes Herz lässt sie einfach nur agieren. Ihre Augen verfolgen Precious, die bei ihrer Schwester ankommt und sie von oben bis unten regelrecht mustert. Jean betrachtet sie skeptisch aus dem Augenwinkel. Sie kennt diese Person nicht und von daher ist ihr diese Situation sichtlich unangenehm.
Precious bleibt neben Jean stehen und neigt den Kopf.
»Weißt du wer ich bin?« Jean blickt zur Seite und schaut Precious fragend an.
»Sie versteht dich nicht. Sie spricht nur spanisch«, erklärt Sam ihrer Tochter. Oder dieser Frau, die sie einmal Tochter nennen durfte.
»Dann übersetze«, raunt Precious und behält Jean im Auge. Sam schweigt. Warum sollte sie auch übersetzen? Weil Precious sich das in den Kopf gesetzt hat? Nach den Worten, die den Mund dieser jungen Frau verlassen haben, soll Sam ihr tatsächlich einen Gefallen tun? Wie viel hat Precious von ihrer Mutter bloß mitbekommen?
Weil Sam kein Wort spricht, greift sich Precious an den Rücken. Langsam holt sie dort ihre Waffe aus dem Holster. Ganz die Mutter.
»Übersetze«, warnt sie Sam ein weiteres Mal und belässt die Waffe an der Seite des Oberschenkels. Gesichert, aber geladen. Sams Augen weiten sich auf Grund dessen. Was soll das? Will Precious Jean umbringen? Will sie ihre eigene Schwester umbringen? Ist diese Frau wahnsinnig?
Jean ist die Handlung der unbekannten Frau nicht entgangen. Etwas verängstigt blickt sie zwischen der Waffe und ihrer Mutter hin und her. Sie kann sehen, dass Sam mit ihrer eigenen Angst kämpft. Angst, weil sie nicht weiß, was Precious mit dieser verdammten Waffe vorhat.
»Jean, esto es Precious. Ella quiere hacerle unas cuantas preguntas y voy a traducir.« Auch wenn Jean nicht weiß, weshalb ihre Mutter irgendwelche Fragen dieser fremden Person übersetzen soll, stimmt sie ihrer Mutter nickend zu.
Sam braucht noch ein paar Sekunden, bis sie Precious' Frage übersetzt und diese Jean stellt. Ihre Tochter schaut Precious an und schüttelt den Kopf.
»No«, antwortet sie zurückhaltend.
»Deine Mutter hat dir nie von mir erzählt?« Zähneknirschend fixiert Sam Precious.
»Su madre nunca le ha hablado de mí?« Ein fragender Blick zu Sam wird getan, bis Jean erneut mit einem kurzen »No« antwortet.
»Du weißt also nicht, dass ich deine Schwester bin?« Verwirrt schaut Jean Precious an, kaum dass Sam die Frage übersetzt. Ihr Blick wandert blitzschnell an Precious rauf und runter, bis er zu Sam gleitet.
»Mamá, ¿qué quiere decir?«
»Was hat sie gesagt?«, bohrt Precious sofort nach, bevor die Frage im Nirwana landet. Sam schnaubt. Sie kann nicht glauben was hier im Augenblick passiert.
»Sie hat mich gefragt, was du damit meinst.«
»Du weißt nicht, dass Damon dein Bruder ist?« Precious zeigt zu dem Mann nach hinten, der sich bis jetzt in all das nicht einmischt. Er bleibt, ebenso wie sein Vater, im Hintergrund und beobachtet von dort aus die Situation, während Neves Tochter mit allen Mitteln der Gefahr entgegentritt.
Jeans Augen wandern fragend zu dem farbigen Mann.
»Mamá, ¿por qué dice eso?« Sam macht einen Schritt in Precious' Richtung, als die in ihre Hosentasche greift. Als sie allerdings ein Handy in der Hand ihrer Tochter sehen kann, beruhigt sich ihr nervös flatterndes Herz.
Precious hält Jean das Handy direkt vor die Augen.
»Das ist dein Vater, Matt. Er ist mein Vater und der Vater von Damon.« Precious zeigt flüchtig nach hinten. Verwirrt blickt Jean auf das Handy, während Sam bei jedem übersetzten Wort immer schlechter wird. Zögernd nimmt Jean das Handy in die Hand und blickt auf das Display. Regungslos betrachtet sie das Bild ihres Vaters und schaut danach Precious an. Sie sucht in dem Gesicht ihrer Schwester Ähnlichkeiten. Ähnlichkeiten mit dem Mann auf dem Foto. Auch Damon betrachtet sie eingehend. Ihr Blick gleitet zu ihrer Mutter. Sie zeigt ihr das Handy.
»Mamá, ella está diciendo la verdad? Es esta mi padre?« Sams Zähne beginnen zu knirschen. Sie will diese Frage nicht beantworten. Jean sollte nie erfahren wer ist Vater ist. Sie sollte einfach aus einer stürmischen Nacht entstanden sein, mehr nicht. Es gab keinen Vater in Jeans Leben. Es sollte ihn nie geben. Niemals!
»Mamá«, fordert Jean ihre Mutter auf, ihr endlich zu antworten. Mit brennendem Blick schaut Sam zu Precious hinüber. Sie nickt. Das sollte nicht passieren. Jean sollte einfach im Glauben leben, dass es keinen Vater gibt, basta. Das wäre für sie einfach am besten gewesen. Für sie und Sam.
Fassungslos schaut Jean ihre Mutter an. Nach fast achtzehn Jahren erfährt sie, dass sie einen Vater hat? Was zur Hölle soll das?
»Warum hast du mir nie von ihm erzählt?«, übersetzt Sam Jeans Frage, bevor sie diese in spanischen Worten beantwortet.
»Weil deine Mutter feige ist. Erbärmlich und feige«, grunzt Precious wütend. Ihr Blick ruht auf Sam, die diese Worte nur widerwillig übersetzt.
»Deine Mutter hat meine Mutter geliebt. Sie war ihr ganzes Leben. Sie war alles für sie.« Precious zeigt zu Neves Grab. Jean folgt ihrer Hand.
»Meine Mutter hat dich ebenso geliebt wie mich und dich fast zwei Jahre mit aufgezogen. Du kannst dich nicht an sie erinnern, du kennst sie nicht. Aber glaube mir, sie war der gütigste Mensch den ich je kennenlernen durfte.« Ein flüchtiger Blick zu Sam wird getan, die jedes einzelne Wort übersetzt. Sie wandelt die Worte einfach nur noch um, ohne über dessen Bedeutung nachzudenken. Sie wirft Jean Worte um die Ohren, die die junge Frau kaum glauben kann. Allerdings spürt sie selbst, dass sie mit jedem Wort mehr und mehr an ihre geliebte Frau erinnert wird. Ihre Gefühle erwachen allmählich wieder zu neuem Leben, weil sie diese mit jedem Wort über Neve ganz langsam aufweckt.
»Meine Mutter ist vor sechszehn Jahren gestorben und deine Mutter hatte nichts besseres zu tun, als abzuhauen. Sie hat mir erst nach Tagen erzählt, dass meine Mum tot ist, weil sie mit uns beiden vor dieser Situation floh. Sie entriss mich, ohne mich zu fragen, meiner eigenen Mutter.« Precious' bohrender Blick reißt ein schmerzhaftes Loch in Sams Herz, die noch immer jedes Wort übersetzt. Sie kann sehen, dass sie Jean in einen Schock versetzt, den sie niemals erfahren sollte. Bis heute ist Jean gut behütet aufgewachsen. Nie musste sie irgendwelches Leid erfahren. Sie wuchs in einer regelrechten Blase auf. Diese bekommt nun aber Risse. Risse für die Precious verantwortlich ist. Oder doch eher Sam?
Die Polizistin blickt zu Sam hinüber. Sie kann an ihrem Gesicht ablesen, dass es in der Südländerin arbeitet. Dass ihr bewusst wird, was sie damals