Studium und Leben im Mutterland des Sozialismus
Auf geht es nun in die große Sowjetunion, dem Mutterland des Sozialismus, zum großen Bruder.
Das erste Jahr verbringt Jura im Wohnheim einer sowjetischen Garnison im Raum Moskau. Ein Zweibettzimmer, einen Schreibtisch, einen Einbauschrank und ein Nachtschränkchen teilt er mit einem Offizierskameraden. Diese „Welt“ ist Jura entschieden zu klein. Zu Fuß wandert er in die Dörfer der Umgebung, entlang des Flusslaufes der Kljasma in die Birkenwälder, in denen man schon Mal einem Elch begegnet. Jura wird auch spontan zu Russen nach Hause eingeladen. Auch hier herrscht eine große Gastfreundschaft. Jura lernt die bescheidene Lebensweise in den Dörfern und die russische Seele mit ihrer Gelassenheit und Ehrlichkeit kennen und achten. Und ist das Holzhäuschen auch noch so klein – drei und mehr Generationen finden darin Platz. Es entwickeln sich echte Freundschaften. Jura wird in diesen oder jenen Familienkreis aufgenommen. Doch es werden auch rote Linien überschritten indem diese oder jene Tochter des Hauses meint, sie könne Jura benutzen, um die Sowjetunion zu verlassen. Es wird für immer ein Geheimnis bleiben, ob diese Episoden gespielt oder echt waren. Wie auch immer - mancher der Sonnenuntergänge an der Kljasma werden immer in Juras Gedächtnis haften bleiben.
Jura besucht auch Leute aus der Komi ASSR und Kaukasier, die in der Garnison wohnen. Leider gelingt es ihm nicht, ihrer Einladung nachzukommen und deren Heimat zu besuchen.
Er wird gut auf das Studium in der Fakultät für Kommandeure und Stabsoffiziere der Luftstreitkräfte vorbereitet und auch zum Hauptmann befördert. In der Ausländerfakultät der Militärakademie der Luftstreitkräfte „Juri Gagarin“ in Monino fühlt sich Jura wohl.
Aber das Leben in der Sowjetunion enttäuscht ihn immer mehr. Mangelwirtschaft überall. Und das in einer zentralen Region Russlands. Überall trifft man Trinker und willenlose Personen. Die werden von der Vielzahl der Leute ignoriert. Liegt ein hilfloser Trinker irgendwo auf dem Weg im Schnee, findet sich niemand, der ihm hilft. Eher steigen die Passanten über ihn hinweg.
Offensichtlich fehlt vielen Menschen die Zuversicht und der Gaube an eine sichere Zukunft.
Das erinnert ihn an die abgeschiedenen und vergessenen Dörfer Mecklenburgs.
Nach einem Jahr bekommt Jura eine Wohnung zugeteilt und die Familie kann anreisen.
Jura legt besonderen Wert darauf, Kontakte zu den sowjetischen Offizieren und deren Familien herzustellen. Diesen ist es aber weitgehend untersagt, mit Ausländern privat zu verkehren. So werden die Beziehungen eben durch die Ehefrauen geknüpft. Dies gestattet einen detaillierten Einblick in das Leben der Menschen. Es kommt zu Besuchen außerhalb der Garnison und auch zu Ausflügen weit hinaus aufs Land.
Während einer Bahnfahrt nach Leningrad begegnet Jura einer alten Dame, die mit ihm leise deutsch spricht. Dabei sieht sie sich ängstlich um. Sie sei in den 1930er Jahren mit ihrem Mann im Auftrag der Kommunistischen Internationale in die Sowjetunion gekommen. Wenig später seien sie und ihr Mann in ein Arbeitslager verschleppt worden. Ihr Mann sei seit dieser Zeit verschwunden. Sie kam nach Jahren über Umwege frei. Sie habe nie die Möglichkeit gehabt, die Sowjetunion Richtung Deutschland zu verlassen – auch nicht nach dem Bruch mit dem Stalinismus. Und nun sei sie zu alt dafür. Begegnungen dieser Art stimmen Jura traurig. Alles passt nicht ins Bild, das er über die SU hatte.
Jura und die anderen Auslandsstudenten werden streng unterwiesen, die Garnison - mit Ausnahme der Stadt Moskau - nicht zu verlassen. Das Verbot wird mit der hohen Kriminalitätsrate begründet. Aber es liegt auf der Hand, dass da andere Gründe vorliegen. Das politische Moskau wollte sich nicht in die Karten sehen lassen. Dieses Verbot bewirkt bei Jura gerade das Gegenteil. Zu sehr zieht es ihn in die umliegenden Städte und Regionen.
Akademische Ausbildung und brachiale sowjetische Militärstrategie
Das akademische Niveau des Studiums konnte sich sehen lassen. Besonders die naturwissenschaftlich - mathematische Ausbildung war herausfordernd. Dennoch war auch hier die sowjetische Lernmethode des Auswendiglernens dominant. Auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften artete dies zum Teil dahingehend aus, dass es unüblich war, die vorgegebene Lehrmeinung kritisch zu hinterfragen. Keine Spur von der Anwendung der dialektischen Methode der schöpferischen Weiterentwicklung bestehender Theorien. Dies allerdings haben wir in der DDR gelernt. Und überhaupt: das selbständige Denken und Hinterfragen der Lehrmeinung mochten die Dozenten nicht. Man ehrte den dialektischen und historischen Materialismus und hob hervor, dass Lenin diesen erfolgreich weiter entwickelte. Aber damit ist so etwas wie ein statisches Gesellschaftsbild entstanden, dessen Wesen keiner zu kritisieren wagte. Gesellschaftliche Stagnation und keine Spur von Reform oder Vision. Der Begriff der gesellschaftlichen Harmonie tauchte in der Sowjetunion nicht auf. Er scheint unvereinbar mit dem Klassenkampf zu sein.
Interessant findet Jura das Studium der sowjetischen militärischen Strategie, der operativen Kunst und Taktik. Alles basiert auf den Erfahrungen des Großen Vaterländischen Krieges. Allerdings bedeutet dies nicht, dass Lehren aus anderen Kriegen der Vergangenheit und Gegenwart ignoriert wurden.
Das vermittelte Kriegsbild war realistisch. In keiner Weise wurde die martialische und brutale Art der Kriege verharmlost. In die Behandlung von Frontangriffsoperationen der sowjetischen Truppen auf dem westlichen Kriegsschauplatz wurde auch der Übergang zum Einsatz von Kernwaffen integriert. Da sind trocken und auf dem Papier der topografischen Karten Kernwaffen gegen westliche Städte wie Den Haag geplant worden, um das Vordringen der eigenen Großverbände in die Tiefe des gegnerischen Territoriums zu beschleunigen. Keiner hat den Versuch unternommen, sich vorzustellen, was dies für die unschuldigen Zivilisten bedeuten würde und welches Leiden all dies verursacht. Für die erfolgsorientierten sowjetischen Militärs war all dies trockene Taktik. Und im übrigen spielte das Schicksal des einzelnen Menschen ohnehin historisch in Osteuropa noch nie eine entscheidende Rolle. Also was soll dieses individuelle Gesäusel, mochte der eine oder andere gesagt haben. Auch Jura macht sich keine tiefer gehenden Gedanken dazu. Offensichtlich fehlt es ihm an der notwendigen Lebenserfahrung.
Viel später denkt Jura an diese Art der Kriegsvorbereitung zurück. Erst als er in Tschetschenien an der Basis erfahren muss, dass Krieg in Europa heute nicht ausschließlich auf Schlachtfeldern ausgetragen werden kann und was Krieg für die unbeteiligten Zivilisten bedeutet, erst dann denkt er kritisch über die Lehre an der Militärakademie nach.
Die Studienjahre sind erlebnisreich und angenehm. Es wird sehr viel gefeiert und getrunken.
Mit einem weiteren Diplom – Abschlussnote „sehr gut“ - geht es zurück in die Heimat. Für Jura folgen trotz mehrerer Versetzungen Jahre der Routine und des grauen Alltages. Ungezählte Stunden lehnt er im Stab über topografischen Karten, Plänen und Schemen oder er schreibt Entschlusstexte oder Befehle. Es geht um die Organisation der Luftverteidigung über dem Norden der DDR. Alles in der Luftverteidigungsdivision (LVD) unterliegt selbstverständlich strenger Geheimhaltung und wird auf vereinnahmtem Papier erarbeitet. Bald hat er von diesem Papierstaub genug. Es liegt ihm nicht, dauernd nur Papiertiger durch den Stab zu schieben. Das zehrt an ihm und zermürbt. Er muss lange an Texten über das Niveau der Ausbildung und den politisch-moralischen Zustand der Truppe feilen. Das tötet Visionen und Träume. Fast gerät die Suche nach Harmonie außer Betracht.
Jura wechselt den Dienstbereich und das Aufgabenfeld, wird nach Strausberg bei Berlin versetzt, erhält sofort eine neue Wohnung zugewiesen und wird zum Major befördert.
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