Jura erlebt diese Auseinandersetzungen regelmäßig. Aber er hat andere Sorgen. Er fürchtet, dass Mutter einen Mann kennen lernen könnte, der ihm die Stellung in Haus und Hof streitig machen würde. Als Marie diesen oder jenen Freund trifft, diese auch das Haus besuchen, versucht Jura alles, um sie zu vertreiben. Er präpariert ihre Fahrräder und zeigt sich als Rüpel, der er im Grunde gar nicht ist.
Seine Reise- und Ausflugslust befriedigt Jura weiterhin mit Radtouren. Immer weiter führen sie den Jungen – vorbei an Schlössern und Burgen, zu Heimatmuseen und Ausstellungen und auch weit über die Grenzen Sachsens hinaus. Bis er eines Tages zu Ostern weiter ausholt und über Nächte wegbleibt, um die Wartburg in Eisenach zu erreichen. Mutter informiert die Dorfpolizei.
Es kommt zu einigen unangenehmen Erziehungsmaßnahmen.
Doch dann geht Jura sogar noch weiter. Er begeistert Freunde für künftige gemeinsame Ausflüge und Vorhaben. Sie führen ihn und beide seiner Freunde durch das Erzgebirge. Sie übernachten in Jugendherbergen. Später fahren sie mit Erlaubnis der Eltern in die Tschechoslowakei.
Jura erzielt in der Schule gute Noten und genießt Autorität auch als Reiseführer. Er kennt die Heimat zum Teil besser als mancher Lehrer. So darf er mehrtägige Radtouren mit einer oder zwei Klassen anführen.
Nach der Beendigung der Grundschule und der Jugendweihe besucht er im Nachbarort die Mittelschule. Jura ist als Kind begeisterungsfähig und impulsiv. Da ist aber immer auch eine Mischung aus Neugier und Misstrauen mit im Spiel. Über allem allerdings bleibt der Traum von Harmonie im Kleinen wie im Großen.
Er kauft sich ein Rennrad. Damit wird er noch weitere Touren fahren können.
Auch die Mittelschule fällt ihm leicht und nebenher absolviert er im Reparaturwerk für Tagebautechnik eine berufliche Grundausbildung zum Elektromonteur. Zwei Wochen Unterricht und eine Woche Berufsausbildung in der Sozialistischen Betriebsschule stehen an. Er bewirbt sich dort für eine weitergehende Ausbildung bis zur Hochschulreife.
Gefühlte, aber spät erkannte Ausgrenzung und antideutscher Sarkasmus
In Dorf und Schule fällt Jura mit zunehmendem Alter immer mehr auf, dass er und seine Familie auf eine besondere Art ausgegrenzt werden. Das missfällt ihm und es verstärkt die Tendenz, sich abzusondern und vom Kollektivtrend auszuschließen. Dafür gibt es mehrere Ursachen, die er erst allmählich erkennt. Das sind sowohl Abgrenzungsbestrebungen der Leute gegenüber den Heiducoff`'schen Eigenbrötlern als auch die sich daraus ergebenden Verhaltensmuster. In Dorf und Region dominieren Bauernfamilien mit langer deutscher Tradition. Die meisten haben deutsche Wurzeln, was auch in den Familiennamen zu erkennen ist. Sie bestimmen Meinung und Stimmung im Dorf. Bewusst oder unbewusst leben sie ihren Stolz auf die nationale Tradition ihrer Höfe und Familien aus. Die Klein- und Mittelbauern haben sich durch den Fleiß ihrer Familien Besitz geschaffen. Der Kurs der DDR in Richtung Sozialismus missfällt ihnen. Sie sträuben sich gegen die Kollektivierung ihrer Felder und Höfe. Sie empfinden das als Enteignung und Aufteilung ihres Familienbesitzes. Jura missfällt es, für diese Bauern für einen Minilohn Rüben zu hacken oder Kartoffeln zu sammeln.
Mit der Industrialisierung Westsachsens im 19. Jahrhundert zog es Familien aus den angrenzenden slawischen Lebensräumen an, die Arbeit und Brot in den Zechen oder als Knechte bei den Bauern suchten. Sie werden bis heute ausgegrenzt. Noch schlechter erging es den Heiducoffs, deren Großfamilie als Kriegsflüchtlinge vor den Türken von Bulgarien über Russland nach Sachsen kamen. Sie mussten sich als Bettler oder Bedienstete einflussreicher Russen durchs Leben schlagen. Auch äußerlich unterscheiden sie sich durch ihre prägende große Nase von den durchschnittlichen Deutschen. Ihr Name wird als „Heidekopf“ oder „Heidekopp“ verunglimpft. Unbestritten sind dies Nachwirkungen patriotisch nationalistischer und rassistischer Tendenzen aus der Kaiser- und Nazizeit. Fremde finden keinen echten Anschluss in der von Deutschen dominierten Dorfgemeinschaft. Dies verstärkt die bestehende Zurückhaltung.
Diese führen aber nicht dazu, die Heiducoffs in eine Opferrolle zu zwingen. Psychologisch hat sich in Gegenwirkung Abscheu gegen alles überbetont Deutsche herausgebildet. Ein Heiducoff wird von der deutschen Mehrheit stets besonders beobachtet und beurteilt. Er muss sich immer wieder behaupten und durch besondere Leistungen hervortun. Langfristig bildet sich bei Jura eine Art antideutscher Sarkasmus heraus. Dieser prägt ihn zeitlebens. Vorgesetzte mit typisch deutschen Namen wie Kaiser, Ludwig, Heger, Voigt, Spindler oder Kasdorf kann Jura nicht ernst nehmen. In der Gegenwart verspürt Jura, dass sich Sarkasmus in Hass umwandelt, wenn er Namen wie Höcke oder Weidel hört.
Der Prager Frühling
Nach der Devise „Weltanschauung kommt von Welt anschauen“ bilden sich erste Überzeugungen bei Jura heraus. Es kommt das Jahr 1968 und Jura fährt mit seinem Rennrad in die Tschechei und erlebt den Prager Frühling. Die Ideen des demokratischen Sozialismus begeistern ihn. Am 21. August 1968 erlebt Jura den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei. In Kaaden und Umgebung wird er Zeuge eines Generalstreiks und der Blockaden der Straßen und Kreuzungen durch friedliche Bürger. Die tschechische Armee bleibt in den Kasernen, aber die Polizei beteiligt sich an den Demonstrationen gegen den Einmarsch der Russen. Polizisten regulieren die Militärkolonnen in falsche Richtungen und sorgen für Chaos. Jura wohnt den Gesprächen mit sowjetischen Regulierungsposten bei. Diese meinen, dies sei eine Übung und sie seien noch in Deutschland.
Auf Grund seines slawischen Vornamens wird Jura überall gemocht.
Ende August sind auf den Straßen kaum noch die Autos der Touristen aus West und Ost zu sehen.
Erst in den letzten Augusttagen gilt es auch für Jura die Heimfahrt anzutreten. Der vormals glatte Asphalt ist von den Panzerketten in der Sommerhitze stark beschädigt, was das Fahren mit dem Rennrad stark erschwert. Erleichternd wirkt, dass sich Jura an die russischen Versorgungs - LKW anhängt und so die steile Auffahrt nach Zinnwald spielend bewältigt. Auf dem Erzgebirgskamm angekommen empfängt ihn gähnende Leere. Die tschechischen Grenzkontrollanlagen sind verlassen und menschenleer. Doch weiter hinten warten schon die DDR – Grenzposten. Jura wird befragt, ob er Propagandamaterial bei sich habe. Selbstbewusst antwortet er: „Nein“.
Als die Kontrolle einen Stapel Prager Volkszeitungen und mehrere Filme seines Fotoapparates zum Vorschein bringt, wird Jura in Gewahrsam genommen. Es beginnt ein Verhör. Er empört sich und beginnt zu diskutieren.
Mitarbeiter der Grenztruppen bringen ihn in die Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit Dippoldiswalde. Er wird befragt und alles wird akribisch dokumentiert. Man droht ihm, die Ausbildung zum Abitur zu verhindern. Erst am nächsten Morgen wird er mit der Auflage, sich bei der Kreisdienststelle des MfS zu Hause zu melden, entlassen.
Todmüde radelt Jura durch die Berge. Die Wut im Bauch hält noch lange an. Seine politischen Überzeugungen beginnen zu schwanken. Da werden die Ideale des demokratischen Sozialismus bekämpft und hier wird er als Saboteur behandelt. Doch Schuldgefühle kommen nicht auf.
Brav meldet er sich regelmäßig, meist wöchentlich bei der MfS – Dienststelle. Der 16-Jährige empfindet dabei so etwas wie wichtig zu sein.
Der Boden der Realität
Die Drohungen, ihm die Abiturausbildung zu verbieten, erweisen sich als Einschüchterungsver-suche. Die Lehre zum Elektromonteur wird fortgesetzt und läuft parallel zur Abitur – Ausbildung. Die Theorie fällt Jura leicht. Die