Das Geschäft war geschlossen, und ich trat den Heimweg an, auf dem mir wieder kein Mensch begegnete.
Wann wird man der Bevölkerung Meldungen machen, fragte ich mich, und welche Behörden, welches Ministerium wird es sein? Gibt es etwa Krieg – einen modernen, heimtückischen, leisen Krieg, von dem man zunächst nicht das Geringste spürt, bevor plötzlich ein biologischer oder elektronischer Totalschlag gegen den Feind ausgeführt wird? Aber das in Europa, in der so einträchtig funktionierenden Europäischen Union? Ein Krieg, redete ich mir mit meinem angeborenen Optimismus ein, war doch eher unwahrscheinlich.
Wären nur die Funkuhren betroffen, könnte man auf einen Defekt in Braunschweig schließen. Aber dass so viele unterschiedliche, voneinander völlig unabhängig tickende Apparate zeitgleich den Atem anhalten und die Welt in eine zeitlose Schwebe bannen sollten, das war doch unheimlich. Ich konnte beim besten Willen nicht begreifen, wie es sein konnte, dass gerade auch die nicht-elektronischen, die mechanischen Uhren stehengeblieben waren.
Ich fasste den Entschluss, bei ausgewählten Nachbarn zu klopfen, einfach um in der Krise menschliche Solidarität zu spüren und um etwas von der Redseligkeit, die ‚im gleichen Boot Sitzende‘ in Ausnahmesituationen an den Tag legen, zu profitieren. Dann würde ich zur Polizei fahren, so unwohl mir auch dabei sein würde, der einzige Fahrer auf den nebligen Straßen zu sein. Danach – ja danach hätte ich unter den gegebenen Umständen mein Möglichstes getan und meine Bürgerpflicht erfüllt; ich würde dann ein Buch zur Hand nehmen und darauf warten, dass mich jemand anruft, um zu erklären, was passiert ist.
Ich hatte die Nachbarn schon vergessen und schloss die Haustür in der Vorfreude auf, mich in ein Buch, welches ich schon längere Zeit zu lesen vorgehabt hatte, zu vertiefen – etwas über das Leben einer Josephine Mutzenbacher. Doch was zeigte die unheilvolle Standuhr im Flur? 3:32, und der Sekundenzeiger tickte. Der Zeitstrom floss erneut, und eine offizielle Zeitansage wurde später am Tage durch das Radio gemacht.
So hatte die Börse, Politik, jeder für sich persönlich wieder eine einheitliche Uhrzeit, von der ausgehend man mit gerade dem weitermachen konnte, was man die Tage davor auch schon getan hatte. Doch ich fand es, um ehrlich zu sein, ohne Zeit gar nicht so schlecht. Und genau wie viele Stunden, Minuten und Sekunden an jenem 29. Februar verlorengegangen sind, weiß bis heute niemand.
Veilchen im Januar 2009, Ausgabe 24
Max Haberich
Unsterblich
Die Nachricht, dass Paul Newman angekommen sei, schlägt wie eine Bombe ein und sorgt bei den Diven für helle Aufregung.
„Wie er wohl aussehen wird?“ Die Garbo schaut sich um und glitzert dabei in ihrem bodenlangen, schulterfreien Kleid wie ein Diamantenfeld. Ihr ist es verwehrt geblieben, ihm bei Lebzeiten zu begegnen.
„Det is doch völlig piepe, meine Liebe!“ Die Dietrich im dunklen Nadelstreifenanzug schlägt die Beine übereinander und zündet sich ein Zigarillo an. „Egal welches Aussehen und Alter er für die Ewigkeit wählt, du wirst ihn am Leuchten seiner blauen Augen erkennen.“
„Er soll ja ein ganz Lieber sein“, meint Romy Schneider und nippt an ihrem Champagnerglas. Das schwarze Chiffonkleid und das im Nacken zu einem Knoten gebundene Haar verleihen ihr Eleganz und Charme.
„‘N bisschen schüchtern is er immer gewesen“, sagt die Dietrich.
„Und uneitel“, weiß Hilde Knef mit rauchigem Timbre.
Da stolpert ein blonder, junger Mann mit einer Tätowierung am Unterarm aus dem nachtschwarzen Nichts hervor.
Romys katzengrüne Augen leuchten. „Komm doch näher!“, lockt sie.
Der junge Mann zögert.
„Nu setz dich, Junge. Wir beißen schon nicht, was, Mädels?“, sagt die Dietrich. „Und hübsch biste och.“
Der junge Mann will sich neben die Garbo lümmeln, doch die zieht den freien Stuhl zu sich heran. „Der ist für Paul Newman reserviert.“
„Sei dir da mal nicht so sicher, Greta, dass er überhaupt zu uns stoßen wird“, sagt die Dietrich. „Er war immer mit sich im Reinen.“
„Das gefällt mir“, sagt Romy. „Das gefällt mir sogar sehr. Da kann er uns bestimmt Tipps geben.“ Sie sieht dem unbeholfen wirkenden, jungen Mann dabei zu, wie er nun ihr gegenüber Platz nimmt.
„Du bist Heath Ledger!“, sagt sie plötzlich, und der wird rot.
„Ach, nee!“ Die Dietrich zieht die Augenbrauen hoch und taxiert den jungen Kollegen. Viel zu sensibel. Keen Wunder, dass der sich da unten völlig überstürzt aus dem Staub gemacht hat und sich bisher bei uns nich blicken hat lassen! „Biste also auch nich klargekommen mit dem ganzen Tamtam.“
Heath Ledger fühlt sich sichtlich unwohl und verzieht die Mundwinkel.
Die Garbo beugt sich zur Knef. „Muss ich den Versager kennen?“
„Ihm haben sie doch für ‚Dark Knight’ posthum den Oscar verliehen“, weiß Romy.
„Komm mir jetzt bloß nich wieder mit der Geschichte“, faucht die Dietrich. „Da wären ganz andere dran gewesen.“ Sie stippt die Asche ihres Zigarillos ins Nichts.
Die Garbo dreht ihren Kopf, das lockige Haar fällt nach hinten, und das Licht der Sterne betont ihr makelloses Profil. „Ich hätte ihn zu Lebzeiten verdient.“ Ihre Stimme klingt wie ein gedämpftes Cello.
„Ich muss aber zugeben“, sagt die Dietrich zu Heath Ledger, „den schwulen Cowboy haste grandios gespielt.“ Sie prostet ihm zu und kippt ihren Whisky hinunter.
„Gespielt?“ Die Knef zieht die Augenbrauen hoch. „Dass ich nicht lache!“
„Hildchen, wir haben alle unsere Erfahrungen.“ Die Dietrich grinst und zwinkert Romy zu.
Im selben Moment peitscht ein Schuss und das Glas in der Hand der Dietrich zerbirst mit einem lauten Knall.
Die Diven schreien auf und ducken sich.
„Allet halb so wild, Mädels“, beschwichtigt die Dietrich unerschrocken. „John Wayne spielt sich mal wieder ’n bisschen uff. Fühlt sich eben nur mit ’nem Revolver in der Hand als ganzer Kerl.“
Heath Ledger sieht sich um. Er hätte John Wayne gerne kennen gelernt, kann ihn aber nirgends entdecken. So nutzt er die allgemeine Aufregung und verschwindet in der Dunkelheit. James Dean hat ihn ja gewarnt. Diese Frauen sind echt der Wahnsinn, und es ist nicht zu fassen, dass die Selbsthilfegruppe sie in all den Jahren noch keinen Schritt weitergebracht hat.
Er muss Audrey Hepburn ausweichen, die auf einer Vespa vorbeiknattert.
„Wäre doch gelacht, wenn ich nach über fünfzig Jahren den Bogen nicht doch noch raus bekäme“, ruft sie Gregory Peck zu, der anerkennend den Daumen hoch hält. Da macht die Vespa einen kurzen Satz nach vorne, Audrey schreit auf und der Motor stirbt ab.
„Die hat wirklich keine anderen Probleme“, sagt die Garbo.
„Wundert dich das?“, blafft Romy los. „Seit ‚Ein Herz und eine Krone’ als DVD auf einer Vanity Fair angeklebt war, kennen auch die jungen Leute Audrey und Gregory.“
„Die jungen Leute!“ Die Garbo rümpft die Nase. „Die haben längst keinen Stil mehr.“
„Stil“, wettert Romy weiter. „Brauchen sie den? Sie sind einfach nur unbefangen und wirken dadurch so unglaublich sexy.“ Sie funkelt die Kolleginnen an. „Euer ganzes manieriertes Getue beeindruckt doch schon längst niemanden mehr.“
Hätte die Dietrich die Garbo nicht am Unterarm