Auf einmal erlebte er sich wie die Figur einer längst zu Ende erzählten Geschichte. Ratlos roch er an der Tapete. Indem er sich geräuschvoll räusperte, machte er sich vor sich selbst bemerkbar. Da sonst niemand in der Wohnung war, hatte er eine fixe Idee: Ein Ausnahmezustand war erklärt, auf unabsehbare Zeit war es nunmehr unmöglich, sich in menschlicher Gesellschaft zu befinden. Er setzte sich auf den Boden und putzte alle erreichbaren Schuhe, wobei er ein ruckhaftes Glück erlebte, wann immer er mit der Hand probeweise ins warme dunkle Innere eines Schuhs fuhr.
Er ging im Flur hin und her, hob Sachen auf, um sie wegzuräumen und legte sie dann an dieselbe Stelle zurück. Ich tanze wirklich!, dachte er. Wie hatte er sich einbilden können, gerade in seiner Wohnung sicher zu sein? Es gab keinen Ort mehr, an dem er aus der Welt sein konnte.
Er stand vor der Küchentür, und weil er nicht wusste, wie er sich nun verhalten sollte, und in welcher Reihenfolge, wurde ihm übel. Er packte das Telefon und warf es gegen die Wand. Ich muss erst in Gedanken proben, was ich gleich zu tun habe, dachte er: Zuerst jedenfalls das Müsli in die Schüssel füllen. Dann war zu hoffen (statt wie im Märchen zu fürchten), dass auch Milch im Kühlschrank war. Traf das ein, so würde er möglichst schnell sein Ich-bin-in-der-Küche-greife-in-den-Kühlschrank-und-nehme-die-Milch-Gesicht machen und also in den Kühlschrank greifen und die Milch nehmen. Er erwartete nichts, freute sich auch auf nichts, schon gar nicht auf die Milch, deren Vorhandensein ohnehin zu bezweifeln war! Während er die Hand auf die Türklinke legte und sie absichtlich nach oben zog statt nach unten drückte, war ihm, als bewege er sich schon seit langem innerhalb eines Systems aus in Stein geschlagenen Hieroglyphen. Was brauchte er also? Nach was war ihm? Nach nichts, antwortete er: MIR IST NACH NICHTS. Außer Milch. Und Müsli. Verdammt. Fast die ganze Zeit bis jetzt hatte er nur Lust gehabt auf sein Müsli, jetzt aber wurde es ihm zum Bedürfnis. Warum tarnte er sich immer noch? Er zitterte. Gleichzeitig wurde sein Gesicht leer vor ängstlicher Selbstbeherrschung. Ich bin definiert!, dachte er – und das schmeichelte ihm. Definiert zu sein machte ihn schließlich unauffällig, auch vor sich selbst. Er war ein Mann, der morgens in seiner Wohnung vor der Küche stand. Aber wie gefährdet war dieser Status! Schon ein Schritt weiter, dann würde er ein Mann sein, der IN seiner Küche stand. Jetzt wusste Tepetuschnig, was ihn störte: dass dieser Akt, dieses In-der-Küche-sein für alle da war, nicht für ihn allein. Jeder konnte in der Küche sein! Jeder konnte die Milch aus dem Kühlschrank nehmen! Jeder Müsli essen!
Er flüchtete sich, wie früher bei den Vorlesungen an der Universität, in einen erneuten Blick zum Fenster hinaus: Da bemerkte er, dass im Nachbarhaus noch jemand am Fenster stand: ein Mädchen. Ohne ihn zu beachten, goss sie die Blumen auf ihrem Fensterbrett. Es wurde ihm heiß und schwindlig, aber er konnte nicht wegschauen. Sein Glied wurde steif, und er hatte Blutgeschmack im Mund. Im selben Moment fing er fürchterlich zu lachen an und hatte plötzlich eine schreckliche Angst, die Katze mit einem Faustschlag zu töten, die er gar nicht hatte. Der Mörtel an den Wänden erschien ihm glitschig, würde gleich in Fladen zu Boden fallen. Auf der Stelle kehrte er um, leerte alle Aschenbecher aus, machte das Bett, las die Zeitung, klopfte die Teppiche aus, stellte den Mülleimer vor die Tür, strich sein Schlafzimmer chamoisfarben, wobei er diesen Begriff im Geist unablässig wiederholte, als wäre es eine geheime Formel zur Formalisierung seiner Einsamkeit, führte ein zweistündiges Telefongespräch mit seinem Bruder in Niederösterreich, lernte eine Fremdsprache, studierte den Ulysses, schrieb einer Frau, mit der er letztes Jahr zwei Mal geschlafen hatte, einen langen Brief, spürte eine Wimper im Mundwinkel, übersetzte Henry James ins Deutsche, umarmte den Garderobenständer und schlug mit einer Axt die Badewanne in Trümmer, bis er schließlich, fast ohne es gewollt zu haben, in der Küche stand, wo er sogleich das Licht vierundzwanzig Mal ein- und wieder ausschaltete und das Wasser rinnen ließ, ohne zu wissen warum.
So ging das noch viele, viele, viele Stunden, liebe Kinder, respektive Seiten, und was geschah, als Alfred Tepetuschnig endlich das Müsli in der Schüssel hatte und am Kühlschrank stehend feststellte, dass natürlich WIRKLICH keine Milch mehr da war, weswegen er zum Laden an die Ecke musste, um welche zu kaufen; also das übersteigt das begrenzte Vermögen meiner Beschreibung, ich kann nur zart andeuten: Leo Blooms längster Tag in Dublin war ein Lercherlschas dagegen.
Veilchen im April 2008, Ausgabe 21
Johannes Witek
Aus dem Tagebuch meiner Enkeltochter Eva-Lotta – Wie das Arbeitsamt meiner Mutter Hippi einen Job verschaffte – ein modernes deutsches Märchen aus einem teutschen Arbeitsamte nach einer wahren Begebenheit
Es konnte immer mal passieren, dass jeder in der Familie ab und zu fix und fertig war, besonders wenn es Mama Hippi betraf, und Papa Malte daraufhin in seiner plastischen, bildhaften Sprache uns anhielt, im Leben immer fleißig zu lernen und zu arbeiten wie Mutter Hippi, die augenblicklich arbeitslos zu Hause rumhockte und alle nervte, weil ihr das viele Arbeiten und Lernen im Leben als Überqualifizierte bisher in diesem Staate nichts einbrachte. Und wenn ihr die Leute im Hause begegneten, die noch eine Arbeit hatten, in diesem Lande, in dem das Recht auf Arbeit als Menschenrecht gilt, schaute sie immer auf die andere Seite der Treppe, auf der sie zwar nichts sah, aber trotzdem hinschaute, so lange bis die Arme abstarben und die Beine zitterten.
Das Arbeitsamt hat also einen Sieg über Mama Hippi errungen und sie arbeitslos gemacht. So wurde sie in die minderwertige, gedankenlos-leichtfertige Masse geworfen, und ihr geistiges Niveau ließ laufend nach, wie wir merkten. Unsere Erneuerungsbewegung an und bei ihr in Form von Hausaufgabenbetreuung war zwecklos. Denn ohne Arbeit sein bedeutet – wie unser Sozialkundelehrer sagte – die unvermeidliche Fixierung des geistigen Niveaus auf der niedrigsten zur Existenz nötigen Stufe.
Wenn wir mit Mama Hippi im Arbeitsamtflur wie im Fernsehen in der ersten Reihe sitzen und auf Arbeit für Mama warten, wenn die Arbeitsamtsmitarbeiter sich errötend und ungelenk verbeugen mit der Kaffeetasse in der Hand, bevor sie ihr Werk mit Mutter Hippi beginnen, was höchst langsam oder gar nicht vorwärts geht, weil dort zu viele Mitarbeiter sitzen oder stehen oder gehen, dann ist ‚Scheiße’ nur der normale Ausdruck unserer Missbilligung. Bei dieser Gelegenheit fragt Mama Hippi, die dann auf uns Kinder zeigt, ob sie nicht mal drankommen könne. Jedes Mal sagt dann das Männchen mit dem unerfüllten Sehnsuchtsgesicht, dass es heute nicht so schnell gehe. Aber dann versetzt er Mama Hippi doch in eine Traum- und Rauschwelt, weil er sagt, sie solle in ein paar Tagen ein Wunder erwarten.
Aber bevor sie das Wunder erleben darf, muss sie immer ihr ganzes Drum und Dran auf diesem Amte vorzeigen, was sie so als brave Bäckersfrau vorzuzeigen hat, und das ist oben herum nicht wenig. Anders sah das auf dem Sklavenmarkt des alten Roms auch nicht aus. Und zufrieden schaut das Männchen an ihr herum, sagt dann aber, dass Bäcker zurzeit nicht gebraucht werden. Da meint Mutter Hippi, gut, ich bin auch bereit, was anderes zu machen, zum Beispiel für meine Kinder gut zu kochen, worauf wir uns bei diesem Satz besonders über das Wort ‚gut’ freuen und das Mittagessen gar nicht mehr erwarten können. Bei diesem Satz verstummen wir Kinder also und sehen sehr ernst auf Mama Hippi und auf den Arbeitsmenschen, der uns nicht kennt; das macht aber nichts, denn hier sind wir ja keine Menschen, sondern bloß Nummern, und deshalb danken wir jetzt schon Mutter Hippi für das gute Essen nummernbewegt. (Leider hat die Geschichte aber einen Haken: Wenn das Essen schmeckt, kocht immer Oma Regula.) Da aber fährt dieser Arbeitsberater erschrocken zurück, sieht wieder uns Kinder an und denkt sich seinen Teil, denn wir sehen mal wieder wohlgenährt aus, nicht wie Hartz-IV-Kinder auszusehen haben. Endlich sagt er, dass er vielleicht doch etwas habe, aber das müsse er sich erst noch überlegen.
Dann ging es Schlag auf Schlag, denn das Überlegen dauerte nur ein halbes Jahr. In dieser Zeit hielt sich Mama Hippi mit Schwarzarbeiten zu Hause über Wasser wie Staub wischen, Teller abwaschen, Kartoffeln schälen, Kinder erziehen und Betten machen. Schließlich konnte sie sich zu Hause vor lauter Schwarzarbeit gar nicht mehr retten.
Doch das Allerschönste: Vom Amt bekam sie einen Brief. Gleich machte sie sich ans Lesen, schrie aber auf und stand mit einem Male vor dem bis auf den Boden reichenden Spiegel und musterte ihre bäckerlich abgerundete Mädchengestalt. Wir sollten gefälligst ihren Leib beschauen, befahl sie