„Seltsam“, brummte Wal-Freya. Sie schob die Steine weiter voneinander weg. Dann hob sie die Hand darüber. „Ich spüre nichts.“
Odin runzelte die Stirn. „Du wolltest doch Wache halten, Thor?“
„Ich habe kurz die Augen geschlossen. Es hatte sich seit Stunden nichts gerührt.“
„Bis sich etwas gerührt hat“, erwiderte Juli trocken.
Wal-Freya lupfte den Quersack vom Boden und warf einen Blick hinein. „Von allein werden die Vorräte jedenfalls nicht weniger.“
„Jemand hat es gewagt, sich über unsere Reserven herzumachen?“ Von Thors aufsteigender Wut erweckt, tanzten kleine Entladungen um Mjölnir.
„Lass den Hammer stecken. Da ist niemand mehr“, beruhigte ihn Wal-Freya. Sie nahm einen der Lavabrocken in die Hand und betrachtete ihn genauer.
„Es war aber irgendwer zu sehen“, beharrte Thea.
Djarfur wieherte bestätigend.
„Du solltest die Felsbrocken zerkleinern, nur zur Sicherheit“, schlug Tom vor.
„Gute Idee“, stimmte Odin zu.
„Das erledige ich mit Vergnügen“, knurrte Thor. „Ich billige nicht, dass mir mein Essen streitig gemacht wird!“
„Aber wenn es harmlos ist?“, rief Thea. „Meine Fylgja war völlig entspannt.“
„Ich bin es nicht“, erwiderte Thor. Er hob den Hammer über die Schulter und war gerade im Begriff die Waffe zu schleudern, als die Steine erbebten und in Bewegung gerieten. Während Thor staunend verharrte, liefen die Brocken zusammen und verbanden sich zu einem Wesen. Es reichte Wal-Freya bis zu den Knien. Im größten Klumpen entstand ein Gesicht. Zwei spitz zulaufende Bröckchen links und rechts der Wangen bildeten seine Ohren. Von der Stirn bis in den Nacken hinein formten unterschiedlich große Steinchen eine Art Irokesenfrisur. Es hatte Hände mit einzelnen Fingern und sogar einen Fuß an einem der Beine.
„Ist meiner“, sagte es, derweil es vor Wal-Freya tänzelte.
Verdutzt übergab die Walküre ihm den Stein. Das Wesen warf ihn vor sich auf den Boden, worauf der Felsbrocken eigenständig auf seinen linken Stumpf zurollte und dort als Fuß verblieb.
„Besser“, sagte es zufrieden.
Wal-Freya runzelte die Stirn. „Was bist du?“
„Ein gefräßiges Steindings“, erwiderte Thor grübelnd.
Hugin und Munin krächzten bestätigend.
„Mit Essen tut mir leid. Ich konnte nicht widerstehen“, entschuldigte es sich.
Odin, auf Gungnir gestützt, beäugte den Besucher näher. „Vielleicht ist es ein versteinerter Troll, in den das Leben zurückgekehrt ist.“
Wal-Freya schüttelte den Kopf. „Der hier sieht nicht annähernd aus wie ein Troll. Trolle oder Zwerge, die zu Stein werden, behalten ihre Beschaffenheit; der hier wirkt, als hätte man ihn aus ein paar Lavabrocken ...“
„Zusammengesetzt“, nahm Thor ihr die Worte aus dem Mund.
„So ist es“, nickte das Wesen eifrig.
„Trotzdem darfst du nicht ohne zu fragen unsere Vorräte futtern“, schimpfte Juli.
„Entschuldigung. Aber ich hatte soooo Hunger.“
„Was bist du jetzt genau?“, fragte Tom.
Das Wesen zuckte die Schulter. „Zusammengesetzt. So wie böser Mann gesagt hat.“
Thor blickte empört. „Ich bin gar nicht böse!“
„Du wolltest Steine kaputt hauen, einfach so.“
„Du hast unser Essen geklaut“, entgegnete Thor.
Odin hob die Hand. „Jetzt vergiss endlich mal das Essen.“ Er ging in die Hocke. „Zusammengesetzt hat man dich also. Wer hat das getan?“
Das Wesen sah sich nach allen Seiten um, ehe es flüsterte: „Marijel war es.“
Das erste Mal, seit das Wesen aufgetaucht war, hob die Fylgja den Kopf und spitzte die Ohren.
„Ist das ein zauberkundiger Feuerriese?“, forschte Odin.
„Nein, nicht doch. Feuerriesen wohnen in Mitte von Welt. Sie scheren sich nicht um Steine“, erwiderte es.
„Du kennst dich wohl gut aus“, brummte Tom.
„Muss sein, wenn man im Dienst von ...“ Er duckte sich und wisperte die restlichen Worte: „Muss sein, wenn man im Dienst von Djinn steht. Sonst Ärger.“
Thea durchfuhr ein Blitz.
Wal-Freya zog in einer dunklen Vorahnung die Augenbrauen zusammen. „Sagtest du Djinn?“
Das Wesen legte zischend den Finger vor den Mund. „Leise! Wenn man Namen von Meistern ausspricht, hören sie.“
„Marijel oder Djinn?“, fragte Thor, worauf das Wesen hinter dem Finger energischer zischte.
„Du darfst Wort nicht aussprechen. Alle hören darauf!“
„Djinn also“, vermutete Thor.
Jetzt stampfte das Wesen mit den Füßen und ballte zornig die Fäuste. „Ich gehe! Ihr bringt Ärger. Ich habe kein Interesse auf Begegnung mit Meistern. Tschüss! Habt langes, glückliches Leben.“
Es winkte, drehte sich um und war im Begriff wegzurennen, da schnappte Wal-Freya es an der Schulter.
„Bleib! Nicht einer wird den Namen noch einmal benutzen. Das verspreche ich.“ Sie warf Thor einen vernichtenden Blick zu, worauf dieser die Augenbrauen hob und seufzend mit der Zunge schnalzte.
„Du hast also im Dienste von denen gestanden?“, fragte die Walküre sorgsam.
„Von denen.“ Das Wesen nickte heftig.
„Und du bist geflohen.“
„Mit viel Glück! Noch hat mich niemand gefunden. Ist nicht schön als Sklave.“
„Sklave?“, wiederholte Juli empört.
„Ja. Den ganzen Tag geht es so: mach dies, putz das, hol das, koch Tee ... und wenn es nicht richtig ist, Bestrafung. Manchmal hängen sie dich an Wand, oder mit Fuß an Decke.“
„Da wäre ich auch geflohen“, merkte Tom an.
„Aber hier draußen kein Essen. Ich trinke Lava, knacke Steine, doch viel besser ist Scheibe Brot.“
„Mich wundert es, dass jemand, der hier lebt, Brot kennt“, warf Thea ein.
Das Wesen sah erstaunt zu ihr. „Meister haben allerlei zu Essen. Brot, Äpfel, Feigen, Linsen ...“
Wal-Freya griff nach ihrem Quersack und zog einen Krapfen hervor. Sie setzte sich und hielt ihn dem Wicht hin.
Thor blickte leidend. „Du hattest also doch noch einen.“
„Den habe ich für Notfälle aufgehoben. Wie ich sehe, war es richtig, ihn zurückzuhalten.“
Das Wesen trat mit einem dankbaren Lächeln näher und hockte sich nieder. Die anderen steckten die Waffen weg und folgten seinem Beispiel. Während das Wesen seinen Krapfen kaute, guckte es fröhlich in die Runde. „Ihr seid freundliche Leute. Ihr solltet nicht in Heimat von Meistern gehen. Stadt ist gefährlich.“
„Wir hatten nicht vor, in die Stadt deiner Meister zu gehen“, brummte Thor.
„Zumindest nicht wissentlich“, ergänzte Odin.
„Es sieht aber so aus, als wollt ihr dort hin.