Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750220447
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wie die Beurteilung außerhalb der schwulen Szene sein musste, konnte man sich an den Fingern einer Hand ausrechnen: Wie kann man denn als Schwuler überhaupt heiraten?

      Wieso hast du Lisa geheiratet? Du musst doch gewusst haben, dass du schwul bist: In seinem gesamten Leben konnte es mittlerweile keine Frage mehr geben, die er sich noch öfter gestellt und auch beantwortet hatte. Lisa hatte er geheiratet, weil er sie liebte und weil er Kinder haben wollte. Und natürlich hatte er damals alles mögliche gewusst; aber dass er schwul war, das hatte er absolut nicht gewusst.

      Mit Michel hatte er stundenlang über diese Fragen geredet, obschon Michel solche Fragen unsinnig fand. Es ist doch völlig gleichgültig, ob du immer schon schwul warst oder ob du es geworden bist. Wahrscheinlich bist du es immer schon gewesen und hast es vor dir selber nie zugeben können. Aber selbst das ist völlig gleichgültig. Jetzt bist du jedenfalls schwul, und warum das so ist, das brauchst du doch nicht zu erklären. Ein Hetero würde doch auch nie auf die Idee kommen, zu erklären, weshalb er hetero ist.

      Diese Argumentation hatte ihn nie überzeugt. Ein Schwuler hat nicht unbedingt eine Frau und drei Kinder.

      Du musst lernen, deine Frau und deine Kinder nicht zu gebrauchen, um doch noch als hetero durchzugehen. Und was spricht eigentlich für dich dagegen, dass ein Schwuler Kinder hat?

      Die Tatsache, dass er keine Frau hat.

      Er hat keine Frau! Michel hatte ihn ausgelacht. Er hat keine Frau, so wie jemand auch keinen Mercedes, keinen Computer und kein eigenes Haus hat. Du redest immer nur von deiner Frau und von deinen Kindern, als seien die eine Art beweglicher Besitz. Mir wird wirklich schlecht davon.

      Man sagt das eben so.

      Nein, du sagst das nicht nur so, du meinst das auch so. Und das ist das Schlimme.

      Trotz Michels Skepsis hatte er ihn irgendwann dazu gebracht, gemeinsam mit ihm die eigene Vergangenheit zu durchforsten. Aber letztlich war bei ihren schier endlosen Gesprächen nur das herausgekommen, was er auch schon vorher gewusst hatte: die Begegnung mit Klaus Ferner, einem Nachbarjungen, etwas, das vor fast 30 Jahren geschehen und ihm selber im nachhinein der Mühe eigentlich nicht wert war. Ein pubertärer Ausrutscher: Mit dieser Begrifflichkeit hatte sich diese Episode irgendwann in seinem Bewusstsein festgesetzt und war nach kurzer Zeit ziemlich problemlos ad acta gelegt und vergessen worden. Nicht einmal an den Namen hatte er sich zunächst noch erinnern können. An den Vornamen schon, Klaus, aber der Nachname hatte ihm tagelang, wie man so sagt, auf der Zunge gelegen, ohne dass er sich daran hätte erinnern können. Und als der Name schließlich wieder aus seinem Gedächtnis aufgetaucht war, verwies auch dieser Name auf nichts, das für ihn neu gewesen wäre, war nicht mehr als ein Synonym für pubertärer Ausrutscher gewesen.

      Vielleicht hatte er sich durch die Gespräche mit Michel von Beginn an auch nur mit Argumenten versorgen wollen für die Auseinandersetzung mit Lisa. Denn natürlich musste auch Lisa ihm letztlich vorwerfen, all das doch immer schon gewusst, sie auf die übelste Art und Weise durch ihre Ehe hintergangen zu haben. Und die Auseinandersetzung mit Lisa hatte so sicher kommen müssen wie das Amen in der Kirche. In den letzten Wochen hatte er sich immer häufiger gewünscht, dass Lisa ihn schon längst durchschaut hatte und von sich aus die Initiative ergreifen würde.

      Das geht nicht, hatte Michel ihn mehrfach gewarnt; das ist ein Schritt, den du nur selber machen kannst.

      Heute morgen war es dann so weit gewesen. Den Abend zuvor hatte er sich wieder einmal bis fast zur Hilflosigkeit betrunken, und die Tatsache, dass Lisa bereits um halb elf ins Bett gegangen war, hatte ihn maßlos wütend gemacht.

      Um vier Uhr war Lisa dann zurückgekehrt. Sag mal, was ist eigentlich in der letzten Zeit mit dir los? Ich kann diese verdammte Sauferei einfach nicht mehr ertragen! Zunächst hatte sie es auf die sanfte Tour versucht. Was ist denn los? Sie hatte hinter ihm gestanden und ihre Hände behutsam auf seine Schultern gelegt. Man kann doch über alles reden.

      So, meinst du wirklich?

      Ja sicher.

      Also gut, reden wir über alles. Ich bin schwul.

      Er hatte es wirklich genau so gesagt, voller Zynismus und Aggressivität, und sekundenlang hatte es Lisa die Sprache verschlagen. Dann hatte sie lauthals angefangen zu lachen. Ah ja, du bist schwul! Sie hatte nicht mehr aufhören können zu lachen, und noch war es ein offenes und ehrliches Lachen gewesen über den mehr oder weniger misslungenen Scherz eines völlig Betrunkenen. Ich glaube wirklich, wir sollten jetzt endlich ins Bett gehen.

      In den nächsten zweieinhalb Stunden war Lisa das Lachen vergangen und zwar gründlich. Was für sie zunächst nur ein völlig abstruses Wort gewesen war, hatte durch immer neue Geständnisse seinerseits langsam und unerbittlich Konturen gewonnen, die letztlich nicht mehr in Frage zu stellen waren. Erinnerst du dich noch an den Samstag, als du mit Sven und Kai im Phantasialand warst? Da habe ich dir erzählt, dass ich für ein Wochenendseminar in unserer Filiale in Chemnitz gebraucht würde. Oder das Mitarbeitertreffen in Bad Homburg? Es hatte ihm schließlich ein sonderbares Vergnügen bereitet, mit der gehässigen Akribie eines Buchhalters jedes Detail hervorzukramen, um bei Lisa auch den allerletzten Zweifel auszuräumen. In Wirklichkeit war ich auch da bei Michel in Arnhem.

      Ich glaube es einfach nicht. Diesen Satz hatte Lisa sicherlich hundertmal gesagt. Ich kann das nicht glauben.

      Schließlich hatte sie es geglaubt, und anschließend, wie es ihre Art war, ihren Gefühlen keinen Zwang mehr auferlegt.

      Und irgendwann war dann der Vorwurf gekommen: Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du das nicht immer schon gewusst hast! Letztendlich war sie völlig außer sich gewesen. Man wird doch nicht von einem Tag auf den anderen mal eben schwul.

      Ich glaube, irgendwie habe ich es immer gewusst.

      Es war natürlich eine unglückliche Formulierung gewesen; in den Gesprächen mit Michel hatte der irgendwann gesagt: Du hättest es also doch irgendwann in deinem Leben wissen können; aber da hast du es einfach nicht zugelassen.

      Lisa hatte seine Bemerkung jedenfalls endgültig in Rage gebracht. Was soll das denn heißen: Ich glaube, irgendwie habe ich es immer gewusst?

      Er wusste es selber nicht. Du hättest es zumindest schon lange wissen können: Nun kam ihm selbst diese Formulierung schon völlig überzogen vor.

      Es war da einfach nichts gewesen außer einem pubertären Ausrutscher, den, und das konnte man in der einschlägigen Literatur schließlich nachlesen, fast jeder erwachsene Mann einmal mitgemacht hatte.

      Er war 16 oder 17 gewesen, als er diesen Klaus Ferner kennen gelernt hatte, die ganze Sache hatte nicht einmal ein halbes Jahr gedauert, und schon als er den Dienst bei der Bundeswehr begonnen hatte, war alles vergessen gewesen. Es hatte einfach keine Rolle mehr gespielt, ein sexuelles Erlebnis in der Pubertät, etwas spät vielleicht wegen seiner katholischen Erziehung, aber ansonsten kam so etwas doch wohl häufiger vor. Irgendwann in den vergangenen Wochen hatte er sich aus welchem Grund auch immer im Bahnhofsbuchhandel einen Kinsey-Report über das Sexualverhalten der Menschen in den USA gekauft, hatte das umfangreiche Register systematisch durchgearbeitet und das Buch durchstöbert, und er hatte sich letztendlich bestätigt geglaubt: die meisten Jungen hatten ihr erstes sexuelles Erlebnis während der Pubertät mit einem anderen Jungen. So etwas war also geradezu die Normalität.

      Warum hast du mir nie davon erzählt? Irgendwann hatte Lisa nicht mehr locker gelassen.

      Weil es völlig bedeutungslos war.

      Das glaubst du doch selber nicht.

      Er hatte sich monatelang bereits den Kopf zerbrochen, weil er es selber nicht glauben konnte. Da musste doch schon vorher etwas gewesen sein! Aber da war nichts gewesen. Kein Spielkamerad, den er körperlich attraktiv gefunden, kein Schulfreund, in den er sich heimlich verknallt, keine Unbekannten, denen er auf der Straße hinterhergesehen hatte, nichts, gar nichts. Vielleicht seine Vorliebe für Westernhelden, er hatte als Kind kaum eine dieser Pferdeopern im Fernsehen versäumt; aber schließlich waren ihm seine Gedanken lächerlich vorgekommen. Wenn jedes männliche Wesen schwul war, nur weil es Western verkonsumierte, dann konnte es nicht mehr viele Heteros geben.

      Da