Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750220447
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Bob Dylan aus der Musicbox hören wollten, waren sie zurückgefahren. Wir gehören doch eigentlich zu einer schlimmen Generation, hatte Lisa Tags darauf am Strand zu ihm gesagt. Wir sind egoistisch und autoritär, viel autoritärer als unsere Eltern, und wir weigern uns einfach, älter zu werden. Dann hatte sie gelacht, und dieser Augenblick gehörte zu den vielen kleinen Dingen, die Lisa und ihn verbanden und die man anderen ohnehin nicht erklären konnte.

      Ist es möglich, dass man 16 Jahre lang eine Ehe führt und drei Kinder in die Welt setzt, wenn solche Kleinigkeiten, die man mit jedem x-beliebigen Schulkameraden gemeinsam empfinden kann, die Basis für alles ist? Er hatte sich in den letzten Wochen über solche Fragen den Kopf zerbrochen und war zu keinem Ergebnis gekommen, das er selber hätte akzeptieren können. Das einzige, das immer da gewesen war, war sein schlechtes Gewissen: Was du da tust ist nicht in Ordnung! Hör sofort damit auf! Am schlimmsten war es gewesen, wenn er zumeist mitten in der Nacht und außerdem völlig betrunken in der Küche gesessen und sich gefragt hatte, was denn nun eigentlich mit ihm los sei.

      Und genau diese Frage hatte ihm vor ein paar Tagen auch der neue Geschäftsführer gestellt. Nach dem Frühstück in der Kantine hatte der sich neben ihn gesetzt.

      Was ist eigentlich mit Ihnen los, Herr Dr.Weber?

      Wie meinen Sie das?

      Haben Sie Probleme?

      Glauben Sie, dass ich die auf der Arbeit ausplaudern würde?

      Nein, das glaube ich natürlich nicht; aber es ist nun mal meine Aufgabe, Sie darauf aufmerksam zu machen, wenn Sie Ihre Dienstpflichten nicht so erfüllen, wie das von Ihnen erwartet wird.

      Es war ihm heiß geworden, er hatte sofort gewusst, dass er augenblicklich einen roten Kopf bekommen hatte.

      Es ist doch wohl ein Scherz, wenn wir unsere Kursteilnehmer auf das absolute Alkoholverbot aufmerksam machen und unsere Dozenten sich nicht daran halten, hatte sein Vorgesetzter ihn im Flüsterton wie bei einer unverbindlichen Plauderei wissen lassen und dabei doch eine Entschiedenheit zum Ausdruck gebracht, die ihm einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Was er darauf geantwortet hatte, das wusste er nicht mehr.

      Kurz vor Amsterdam bog er in Richtung Haarlem ab. Von der auf einer erhöhten Trasse geführten Bahn aus sah man auf das Häusermeer der Amsterdamer Vororte. Ab und zu flogen nun große Verkehrsmaschinen in geringer Höhe über die Bahn, und dann war auf der linken Seite das riesige Areal des Flughafen Schiphol zu erkennen. Als in äußerst geringer Höhe und mit ohrenbetäubendem Lärm ein Flugzeug die nun von Lärmschutzwällen eingeengte Bahn überflog, traf es ihn wie ein Schlag: Es grenzte doch an ein Wunder, dass dieser riesige Metallvogel irgendwo dort in dem hell erleuchteten Gewirr aus Straßen, Häusern, Fabriken und Masten noch einen Platz zum Landen finden sollte. Es gab einfach keinen Raum mehr, schoss es ihm durch den Kopf, keine Möglichkeit. Es gab nur noch dieses krankhafte Hin und Her zwischen Zielen, die wie diese Gegend den Aufenthalt gar nicht mehr lohnten, weil alles ausschließlich auf das Rasen zwischen vermeintlichen Zielen angelegt war. Es war ein Wahnsinn, dachte er, und dann nahm der plötzlich wieder verstärkt einsetzende Regen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

      Kurz vor Alkmaar stockte der Verkehr wegen einer Baustelle, die Bahn wies erhebliche Mängel auf, und die Schilder am Straßenrand verlangten, dass man die Geschwindigkeit auf 60 reduzierte. Für einen Augenblick glaubte er sich auf der A3, kurz vor dem Oberhausener Kreuz. Dort waren es Bergschäden, und die permanente Flickschusterei hatte den Zustand der Strecke im Laufe der Jahre wahrscheinlich eher verschlechtert als verbessert. Wenn er in den vergangenen Wochen von Michel gekommen war, hatte das plötzliche Schlagen der Räder auf der holprigen Fahrbahn ihn immer aus seinen Gedanken gerissen und ihm angekündigt, dass er nun fast zu Hause war. Aber erst fast, und es war ihm noch stets genügend Zeit geblieben, sich etwas einfallen zu lassen für den Fall, dass Lisa fragen sollte: Wo kommst du denn jetzt erst her? Sie hatte es aber nur zwei- oder dreimal gefragt, und jedes Mal war er noch bei Kollegen gewesen oder hatte sich noch um Praktikumstellen in irgendwelchen Betrieben kümmern müssen.

      Weißt du, was das Schlimmste ist?, hatte Lisa heute Morgen gefragt und eine Antwort ganz offensichtlich gar nicht erwartet. Dass du mich so bewusst und gemein belogen hast. Hast du wenigstens ein schlechtes Gewissen gehabt bei deinen Lügengeschichten?

      Lass mich doch mit deinem katholischen Gerede zufrieden!, hatte er nur zu sagen gewusst. Er hatte es nicht einmal fertig gebracht, Lisa einzugestehen, dass das permanente schlechte Gewissen die schlimmste Erfahrung der letzten Monate gewesen war.

      Du bist wirklich ein mieses Schwein.

      Er trat das Gaspedal tief nach unten und schoss mit viel zu hoher Geschwindigkeit an der Reihe der langsam fahrenden Wagen vorbei; seine plötzliche Angst vor einer Radarkontrolle kam ihm lächerlich vor, typisch eben für den kleinen mickrigen Spießer, der er war. Für das miese Schwein. Have you seen the little piggies crawling in the dirt?

      In Alkmaar endete die Autobahn, und schließlich hielt er am Rand der breiten und hell erleuchteten Umgehungsstraße an, weil er nirgendwo ein Hinweisschild mit dem Namen Schagen entdecken konnte. Gereizt überflog er die Straßenkarte, versuchte sich ein paar Namen bis zu seinem Ziel einzuprägen und warf schließlich die inzwischen reichlich ramponierte Karte wütend auf den Beifahrersitz.

      Als die Umgehungsstraße auf die am Nordholland-Kanal entlanglaufende Straße stieß und die letzten Häuser der Stadt hinter ihm lagen, schaltete er das Radio ein. Augenblicklich gingen ihm die aufdringlichen Werbespots auf die Nerven, er drehte gereizt an dem Knopf für die Senderwahl, erfuhr irgendwo auf Niederländisch, dass es inzwischen halb sieben geworden war, und schaltete das Radio wieder aus.

      Weshalb tat er sich das alles eigentlich an?, dachte er wütend. Weshalb war er von Arnhem nicht einfach nach Hause gefahren? Dann erst kam ihm die Absurdität dieses Gedanken wieder zu Bewusstsein. Es gab kein Zurück mehr, und dieses Zuhause gab es erst recht nicht mehr. Und auf gar keinen Fall hatte er mit allem gebrochen, um nun auch noch Michel zu verlieren.

      Irgendwie musste das heute auch der überkorrekte Personalchef des Krankenhauses bemerkt haben.

      Sind Sie ein Verwandter von Herrn Rijnders?

      Nein.

      Dann kann ich Ihnen auch keine weiteren Auskünfte über ihn geben.

      Aber verstehen Sie doch! Ich muss den Jungen einfach wiederfinden.

      Hatte er wirklich „den Jungen“ gesagt? Wahrscheinlich, denn plötzlich hatte der Mann gegrinst und gesagt: Ach, Sie sind der Freund von Michel.

      Er hatte nur genickt, wahrscheinlich einen roten Kopf gehabt und dann hatte der Mann gesagt: Michel wohnt seit Jahresbeginn in Schagen. Seltsam, hatte er noch süffisant lächelnd hinzugefügt, dass Sie das nicht wussten.

      Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wo er jetzt arbeitet?

      Darüber habe ich keinerlei Informationen.

      Er spürte plötzlich eine unbeherrschbare Wut gegen diesen Mann in sich hochsteigen. Und je mehr er sich das Bild dieses Mannes mit dem korrekten dunklen Anzug und der Krawatte, auf dessen Schreibtisch Michels Personalakte gelegen hatte, wieder ins Gedächtnis rief, desto mehr steigerte er sich in diese sinnlose Wut, bis schließlich nur noch das Selbstmitleid übrigblieb und die Überzeugung, dass offensichtlich alle Welt gegen Michel und ihn zusammenhielt, weil sie ihre Beziehung nicht dulden konnten. Sie würden es nicht schaffen, sie auseinanderzubringen. Niemals.

      Wo hast du denn diesen Stricher kennengelernt?, hatte auch Lisa heute morgen gefragt und damit endgültig alles zwischen ihnen zerstört.

      Du ekelst mich an mit deinem widerlichen Gerede. Wie kann man so über diesen Jungen reden!

      Als was bezeichnest du ihn denn? Als deinen Freund, dein Bratkartoffelverhältnis, deinen Geliebten? Es war vor allem ihr hysterisches Lachen gewesen, das ihn fast die Beherrschung hatte verlieren lassen.

      Er hatte Michel vor vier Monaten am Essener Hauptbahnhof kennengelernt. Und zwar zufällig kennengelernt, das war für ihn immer wichtig gewesen. Er hatte dort nichts gesucht, als er Michel begegnet war. Gar nichts.

      Es