Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750220447
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Idee gekommen, Michel an seinem Arbeitsplatz zu suchen. Vielleicht war der Junge umgezogen, hatte er heute morgen noch gedacht; aber den Arbeitsplatz gab man schließlich nicht so leicht auf.

      Mithilfe seines Stadtplanes hatte er die Krankenhäuser abgehakt. Beim erstenmal war es ihm peinlich gewesen, sein Anliegen vorzubringen, dann war es fast zur Routine geworden. Erst im sechsten oder siebten Anlauf, einem kleinen Haus, das gar nicht auf dem Stadtplan vermerkt, sondern ihm von einem hilfsbereiten Pförtner eines anderen Hauses genannt worden war, hatte er Michels Arbeitsplatz gefunden. Zumindest seinen ehemaligen. Ein äußerst reservierter Personalchef hatte ihm kurz und knapp mitgeteilt, dass ein gewisser Michel Rijnders mit Ablauf des vergangenen Jahres seinen Arbeitsplatz in diesem Haus aufgegeben habe; wenn er kein Verwandter sei, könne er aus verständlichen Gründen keine weiteren Auskünfte über Herrn Rijnders geben. Erst nach peinlichem Hin und Her hatte der Mann ihm gesagt, dass Michel nach Schagen verzogen sei.

      Schagen? Wo liegt das denn?

      Schagen ist eine kleine Stadt in Nordholland. Zu weiteren Auskünften war der Mann nicht bereit gewesen.

      Sofort hatte er im Wagen auf seiner Landkarte den Ort gesucht, und dann war er losgefahren.

      Wenn es hart auf hart kommt, dann bin ich jederzeit für dich da: es war wirklich lächerlich!

      Unverbindlich, das war die passende Charakterisierung für Michel! Unverbindlich. Der wusste alles, konnte alles, machte alles, ohne dass es ihn selber irgend etwas kostete. Und wenn es ihn doch etwas kosten konnte, dann machte er sich aus dem Staub. Vor allem gab er gerne Ratschläge, um die niemand ihn gebeten hatte. Du musst mit Leuten sprechen, die in der gleichen Situation stecken wie du. Im Augenblick denkst du natürlich, dass deine Situation einmalig ist, aber das ist sie nicht. Bei uns gibt es spezielle Gesprächsgruppen für Leute wie dich; so etwas muss es doch auch bei euch geben. Er hatte es Michel geradezu verbieten müssen, sich nach vergleichbaren Gruppen irgendwo im Ruhrgebiet umzusehen. Vielleicht, dachte er nun, lag es nur daran, dass Michel über zehn Jahre jünger war; aber dann zog er es vor, sich über die mögliche Unreife eines 26 Jährigen weiter keine Gedanken zu machen.

      Noch immer goss es in Strömen, und in den lang gezogenen Kurven blendeten ihn die Scheinwerfer der Wagen auf der Gegenfahrbahn. Die Gegend ringsum lag im Dunklen und ging wahrscheinlich gerade in den Wassermassen unter. Den Hinweisschildern neben der Fahrbahn war zu entnehmen, dass er sich kurz vor Utrecht befand.

      Wie oft war er eigentlich nach Arnhem gefahren? Achtmal, neunmal, zehnmal? Er wusste es nicht genau. Um es genau sagen zu können, müsste er nur die Zahl seiner freien Tage in Erfahrung bringen, von denen er Lisa nichts gesagt hatte. Und den Samstag vor acht Wochen hinzuzählen, an dem er sich mit Michel verabredet hatte, weil er die vorweihnachtliche Familienatmosphäre nicht mehr hatte ertragen können. Er war so ausgelaugt gewesen, dass er sich nicht einmal eine plausible Erklärung für diesen Tag zurechtgelegt hatte.

      Wo willst du denn hin?, hatte Lisa gefragt, und er hatte nichts sagen können. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand der Adventskranz, in einer Holzfigur auf dem Fernseher verbrannten Unmengen von Räucherkerzen in zwei Holzfiguren aus dem Erzgebirge, und Lisa wollte am Nachmittag mit den Kindern Weihnachtsplätzchen backen.

      Ich muss einfach noch mal raus, mir ist nicht gut.

      Wo willst du denn hin?

      Er hatte insgeheim gehofft, sie würde endlich skeptisch werden, wisse womöglich alles schon oder würde ihn nun zumindest zur Rede stellen, um alles in Erfahrung zu bringen, was er ihr wegen seiner Feigheit nicht sagen konnte.

      Ich kann nicht mehr, hatte er Michel gleich bei seiner Ankunft in Arnhem in den Ohren gelegen; und wenn ich an Weihnachten nur denke, dann werde ich wahnsinnig.

      So geht das nicht mehr weiter. Zum ersten Mal war Michel ihm gegenüber energisch geworden. Du musst es ihr jetzt endlich sagen. Das hat doch auch mit mir zu tun, und wenn du es ihr nicht sagst, dann tu ich es.

      Wenn du das tust, bringe ich dich um.

      Das war noch einer der freundlicheren Sätze gewesen, die sie sich bei diesem Treffen gegenseitig zugemutet hatten. Ihr letzter gemeinsamer Tag war zur Katastrophe geworden.

      Die Rückkehr am späten Abend nicht.

      Die Familie hatte inzwischen die angedrohten Weihnachtsplätzchen gebacken, er selber hatte in der Stadt angeblich einen alten Studienkollegen getroffen, und alles war wie immer in bester Ordnung gewesen. Zunächst hatte er geglaubt, Lisa sei wütend auf ihn und wisse inzwischen natürlich alles, nähme lediglich noch Rücksicht auf die Kinder; aber dann hatte er schnell gemerkt, dass sie völlig ahnungslos und gleichgültig war. Und noch am gleichen Abend hatte er sich auch diesen Samstag auf seine ganz eigene Weise zurechtgelegt: Lisa traute ihm so etwas überhaupt nicht zu, weil sie ihn insgeheim für einen Trottel, einen mickrigen Spießer, eine Null hielt. So wie heute morgen.

      Auch heute morgen hatte sie gefragt, wo er denn nun eigentlich hin wolle.

      Das ist doch völlig gleichgültig.

      Ach, es ist dir also völlig gleichgültig, wohin du nun gehst!

      Ja, es ist mir völlig gleichgültig.

      Sie hatte fast hysterisch gelacht. Soll ich dir mal was sagen! Mir ist das alles schon so lange völlig gleichgültig. Deine Mätzchen bin ich nämlich leid. Warum sollst du denn weggehen, und ich muss mit drei Kindern hier bleiben? Ich gehe weg. Ich schmeiße die Brocken hin.

      Geh doch, hatte er gesagt. Geh doch weg.

      Als er dann in den Wagen gestiegen war, hatte Lisa ihn nur völlig verblüfft angesehen.

      Sag mal, bist du verrückt geworden?

      Nein, bin ich nicht. Dann hatte er den Motor gestartet.

      Du hast doch wirklich keinen Kopp und keinen Arsch!

      Das war ihre Bemerkung gewesen, die es ihm endlich ermöglicht hatte, ihr Gespräch für beendet anzusehen und wegzufahren. Einen kleinen Koffer hatte er schon Tage zuvor gepackt und heimlich im Kofferraum verstaut. Der Stadtplan von Arnhem hatte bereits seit Wochen im Handschuhfach gelegen und war ihm oft vorgekommen wie der Passierschein, mit dem er jederzeit das miese Theaterspiel verlassen konnte, in dem er sich seit Wochen befand.

      Keinen Kopp und keinen Arsch!, hatte Lisa ihm scheinbar ohne jede Rücksicht auf mögliche Zeugen dieser Szene nochmals nachgerufen. Und es tut mir wirklich leid für dich, dass du 16 Jahre Ehe gebraucht hast, um das endlich einzusehen! Anschließend hatte sie noch eine Zeit lang in der Tür gestanden, als wolle sie ihm wie einem trotzigen Kind eine letzte Chance geben oder als warte sie darauf, dass er Kerl genug sein würde, diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen zu lassen. Aber dann hatte sie es plötzlich fertiggebracht, ihre ganze Aufmerksamkeit der durch den Briefschlitz geworfenen Post zu widmen, die Briefe aufgehoben, und noch im Rückspiegel hatte er gesehen, wie sie nicht ihm nachgeschaut, sondern anscheinend sogar mit Interesse und Neugier die Briefe ein paarmal gewendet und dabei langsam die Tür ins Schloss hatte fallen lassen.

      Er liebte Lisa. Das wusste er. Es war einfach so: er liebte sie, und nichts und niemand würde daran jemals etwas ändern. Vor allem diesen letzten Augenblick würde er nie vergessen, wie sie nach seinem Geständnis, das ihn Monate an schlaflosen Nächten gekostet hatte, einfach zur Tagesordnung übergegangen war. Sie hatte ihm gesagt, was ihrer Meinung nach gesagt werden musste, dass er nämlich ein Schlappschwanz war, und anschließend hatten irgendwelche Briefe ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Privates, Amtliches, Reklame. Wahrscheinlich wenig Erfreuliches; denn da war schließlich immer noch der Kredit für das schlüsselfertige Eigenheim, das sie niemals hätten bauen dürfen. Die Initiative war wie immer von Lisa ausgegangen: Wenn ich auch wieder zumindest halbtags arbeiten kann, muss es doch finanzierbar sein. Gerade wegen deiner beruflichen Unsicherheit wäre es eine sinnvolle Geldanlage. Und obschon er diesmal an der Richtigkeit ihrer Argumente gezweifelt hatte wie nie zuvor, hatte er wie immer nichts gesagt und den Dingen ihren Lauf gelassen. Und anderthalb Jahre später waren sie in das neue Haus eingezogen, das gar nicht schlüsselfertig war, sondern sich zur ewigen Baustelle entwickelte, wohnten seit dieser Zeit zwar im Grünen, aber nach zwei Jahren hatte dieser Begriff für ihn grundlegend