Der Pferdestricker. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750219397
Скачать книгу
schlechtes Gewissen hat, der hat wirklich ein Problem! In einem Land, in dem nur das Geld über das Umsetzen des eigentlich Notwendigen entscheidet, stimmt etwas definitiv nicht.

      26.8.2001

      Das Arbeiten mit dem Fotoprogramm füllt mich völlig aus. Oft sitze ich den ganzen Tag vor dem Computer. Ich mache Aufnahmen von Pferden und Pferdestrickern, und auf meinem Bildschirm verbinde ich sie. Die Resultate sind wirklich grandios!

      Ich fasse jeweils mehrere zueinander passende Bilder zu Sequenzen zusammen und denke mir dazu Geschichten aus. Aber ich habe im Augenblick nicht die Zeit, diese Geschichten aufzuschreiben. Nur ab und zu füge ich in einige Bilder Texte hinzu, und das ist schon aufregend genug.

      16.9.2001

      Ich habe bereits mehrere CD-Rom mit Bildern gebrannt. Es stört mich jedoch immer mehr die Vorstellung, dass alle diese Bilder zwar aus der Realität stammen, in ihrer Gesamtheit aber eben nicht die Realität abbilden, sondern eigentlich „fakes“, Fälschungen, sind. Ich will sie von jetzt an nur noch als Ansporn nehmen, die Realität zu beeinflussen. (Deutlicher als bei der Arbeit mit dem Fotoprogramm kann die ganze Sache doch gar nicht auf den Punkt gebracht werden! Die Elemente sind schließlich in der Realität alle gegeben; man muss sie nur zusammenbringen. Ich werde mich davon durch gar nichts mehr abhalten lassen.)

      Nur eine Sache macht mir manchmal Sorgen: Ich will auf gar keinen Fall, dass irgendjemand diese CDs findet und sich dann seine Vorstellungen über mich macht, Vorstellungen, die natürlich völlig falsch wären. Ich würde die Scham nicht überleben! Und mein schlimmster Alptraum ist, dass ich z.B. durch einen Unfall zu Tode komme und irgendwelche kleinkarierte Spießer diese CDs finden. Diese Vorstellung ist einfach unerträglich! Mir als Person könnte es gleichgültig sein; jedem Toten kann es am Arsch vorbeigehen, was die Nachwelt über ihn denkt. Das gilt aber nicht für die Sache, für das Projekt.

      21.10.2001

      Seit einer Woche habe ich einen Internetanschluss. Bis auf wenige Anregungen bin ich enttäuscht über das Sammelsurium aus Dreck und Belanglosigkeiten, das über dieses Medium verbreitet wird. Ich hatte etwas anderes erwartet.

      Die virtuelle Realität ist eben keine. Sie ist höchstens die Messlatte unserer Träume.

      Träume müssen aber verwirklicht werden.

      28.12.2001

      Seit ein paar Tagen bin ich Mitglied in einer Yahoo-Gruppe. Man kann dort die Bilder sehen, die ich meine. Aber die meisten sind schlecht und stümperhaft. Aber immerhin! Außerdem kann man dort chatten. Da ist ein Typ aus München, vielleicht kann ich bald seine wirkliche Identität herausfinden.

      24.2.2002

      Der Kerl aus München heißt Georg. Er ist einundfünfzig und hat mir ein paar Bilder zukommen lassen. Nicht mehr das Frischeste, aber irgendwie geil. Eigentlich ist Georg nicht der Typ für Bilder; mich macht es eher geil, mit ihm zu chatten, wenn wir das, was uns beiden durch den Kopf geht, versuchen auf den Punkt zu bringen. Ich glaube übrigens, ich habe ihn mehr als neugierig auf mich gemacht. Trotzdem (oder gerade deshalb!) muss ich aufpassen. Für ihn heiße ich jedenfalls Jonas, und das wird auch in Zukunft so bleiben.

      29.4.2002

      Georg war am Wochenende in Bochum, und ich weiß jetzt, dass er mehr als nur neugierig auf mich ist. Er sagt zwar, dass er verheiratet ist, aber das glaube ich nicht. Dass er Ingenieur ist, das glaube ich schon eher: Er hat anscheinend ziemlich viel Geld.

      Natürlich konnte ich ihn nicht in meine Wohnung nehmen. Es reicht, wenn er mich Jonas nennt; ich will nicht, dass er weiß, wo ich wohne. Ich will ihn loswerden können, wenn ich es will. Also haben wir die Nacht in seinem Hotelzimmer verbracht.

      Es war heiß!

      Georg will mit mir nach Mallorca. Ich habe erst an einen Scherz geglaubt, dann hat er erzählt, dass er erst vor ein paar Wochen dort war. In Can Picafort im Norden der Insel. (Ich musste erst einmal im Internet nachsehen, wo das ist.) Er hat gesagt, dass er da mit Gäulen schon sehr viel Spaß hatte und es dort ein Kinderspiel sei, jeden Gaul zu bekommen, den man haben wolle. Irgendwie bin ich schon neugierig.

      5.5.2002

      Georg hat tatsächlich einen einwöchigen Urlaub auf Mallorca gebucht. Ich bin einfach mal gespannt.

      Aber es gibt ein Problem: Ich hoffe, dass wir am Flughafen oder sonst wo nicht unsere Ausweise vorlegen müssen. Ich will nicht, dass Georg meinen Namen erfährt. Im Reisebüro hat er mich schließlich als Jonas Zimmermann angemeldet und dann steht dieser Name doch wohl auch auf dem Flugticket. Hoffentlich gibt es keine Probleme. Eher lasse ich alles sausen!

      Es kann einen verrückt machen, wenn man sieht, mit welchen Kinkerlitzchen diese Scheißwelt die wirklich wichtigen Dinge behindert und zu vereiteln sucht.

      10.5.2002

      Ich habe heute Lars an der Uni den Reisepass gestohlen. Er wird es, wenn überhaupt, erst später merken, so dass es wohl keine Probleme geben wird. Am Flughafen schauen sie schließlich nur kurz in den Pass, und die Behörden führen schon lange keine Passkontrollen mehr durch. Wie gut übrigens, dass Lars mit Nachnamen Zimmermann heißt. Jonas ist ja ohnehin nur der Rufname!

      Ich habe sofort Georg in München angerufen und ihm alles erklärt, damit er beim Reisebüro die Sache mit dem Vornamen noch in Ordnung bringt.

      Jetzt darf Lars nur nicht sofort den Verlust seines Passes bemerken und bei der Polizei melden!

      27.5.2002

      Wir sind auf Mallorca und Georg hat nicht zu viel versprochen! Can Picafort ist zwar ein typischer Touristenort, und es würde mich eigentlich gar nichts hierhin ziehen; aber gleich am ersten Tag sind wir ein Stück rausgefahren.

      Wenn man von Can Picafort in Richtung Osten fährt, kommt man durch eine Gegend, die aussieht wie eine Dünenlandschaft an der Nord- oder Ostsee. Sobald man aus dem Wagen steigt und in einen der nach links und rechts abzweigenden Wege geht, ist man mutterseelenallein und kann tun und lassen, was man will.

      Etwa einen Kilometer hinter dem Ort steht auf der rechten Seite ein Junge, der ein paar Gäule vermietet. Georg hat mir erzählt, dass man mit dem Kerl machen kann, was man will, weil er keine Konzession hat und es somit illegal ist, was er tut.

      Mich interessiert nur ein Tier: ein weißes, ziemlich unterernährtes Ding, bei dem man sich eigentlich wegen seines Gesamtzustandes schon weigert, die Frage zu beantworten, ob es ein Pferd oder ein Pony ist.

      Natürlich ist es ein Pony. Wenn ich daneben stehe und ihm erwartungsvoll über den Rücken streiche, reicht es mir bis knapp über den Hosenbund.

      Bei den Verhandlungen mit diesem Typen halte ich mich aber völlig im Hintergrund, Georg spricht ein paar Brocken spanisch und tut genau das, was ich ihm vorher gesagt habe.

      Ich habe meinerseits lediglich gleich am ersten Abend Jonas angerufen und ihn gebeten, ebenfalls nach Mallorca zu kommen; mit Georg allein wird mir die ganze Sache auf Dauer zu langweilig. Ich hatte natürlich selber kaum daran glauben wollen, aber bereits am nächsten Nachmittag haben wir Jonas hier begrüßen können.

      Georg ist natürlich ganz hin- und hergerissen von Jonas; manchmal habe ich das Gefühl, er glaubt, ich sei neidisch oder sogar eifersüchtig auf Jonas, aber natürlich ist das alles großer Unsinn. Georg hat mich schließlich von Anfang an kaum interessiert und auch ich bin mehr als froh, dass Jonas hierher gekommen ist.

      Noch am gleichen Nachmittag bin ich mit Jonas in ein Sportgeschäft hier im Ort gegangen und wir haben mehrere Sporthosen für ihn gekauft. Ganz offensichtlich ist Jonas so fasziniert von der Wirkung, die er auf Georg hat, dass er bei der Auswahl der Kleidung sehr wählerisch war und sich außerdem auf mein Urteil verlassen hat. Er hat mich dann übrigens noch im Geschäft wissen lassen, worauf er beim Kauf der Turnhosen achtet: Knapp müssen sie sitzen, keinen Innenslip haben und durchsichtig werden, wenn sie nass sind. Ich bin gespannt, was Jonas vorhat!

      28.5.2002

      Es war grandios! Georg hat dem Kerl ganz kaltschnäuzig das weiße Pony abgeschwatzt, wir waren damit den ganzen Tag unterwegs in den