Der Pferdestricker. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750219397
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Zeitpunkt: Sie wollen die Angelegenheit gegen Mittag erledigt haben, damit sie ab 17 Uhr wieder die Spiele dieser albernen Fußball-Weltmeisterschaft verfolgen können. Ich habe Jonas schon darüber in Kenntnis gesetzt, und auch er war augenblicklich in dieser seltsamen Stimmung zwischen Empörung und Belustigung. Er hat mir sofort seine Hilfe zugesagt.

      Sie haben sich am Freitagabend bereits getroffen, um ihre alberne Komödie aufzuführen. Um mich mit einem Köder anzulocken wie ein dummes Wildschwein und mir dann den Fangschuss zu geben. Und dabei glaubt die dumme Sau, ich hätte nicht einmal mitbekommen, dass sie für mich nur eine Attrappe aufbaut, eine Scheinwelt, die mich in die Falle locken soll. Die eigentliche Arbeit sollen ein paar Hilfsschlächter erledigen, von denen sie nicht einmal ihren Kumpanen etwas erzählt hat. Was glaubt diese Kreatur eigentlich, wen sie vor sich hat! Sie haben wirklich allesamt nichts kapiert, gar nichts, und jetzt werden sie für ihre Ignoranz bezahlen. Sie werden mit ihrem Leben bezahlen. Jeder andere Preis wäre Gotteslästerung.

      Es gibt keine Bilder mehr in meinem Kopf. Es gibt nur noch eine Realität, die ich mir von diesem Gesocks nicht mehr zerstören lasse.

      Ich werde Jonas sagen, er solle sie Stefan widmen.

      Obschon ich ihn als Gott längst aufgegeben habe. Er ist ein armer kleiner Mensch. Aber .......

      Das Schlimmste ist es, seine Götter zu verlieren.

      1

      Seit ein paar Stunden schon war es Freitag, der 5.Mai 2006.

      Die Nacht war bisher ruhig gewesen. Zu ruhig sogar, weil die Zeit einfach nicht vergehen wollte und sie schon mehrfach begonnen hatten, über völlig belanglose Dinge zu reden. Nach sieben gemeinsamen Nachtschichten auf dem Streifenwagen war der Vorrat an Gesprächsthemen einfach erschöpft, und man redete nur miteinander, weil das Schweigen noch peinlicher war.

      „Mit den Schalkern ging es diese Saison ja auch nicht so besonders", versuchte es Polizeihauptmeister Gerber noch einmal.

      „Wieso?“, wollte sein junger Kollege nicht sonderlich interessiert wissen. „Am Mittwoch haben sie doch Bielefeld noch mit 3:1 abgefertigt.“

      „Na gut, aber wer ist Arminia Bielefeld? Warte mal nur bis morgen, da können sie sich in Mainz schon wieder die nächste Packung abholen.“

      „Ist doch egal, Bayern ist sowieso Meister, und Pokalsieger sind sie vorige Woche auch wieder geworden.“

      „Hör mir bloß auf mit dem Pokal! Das 0:6 der Schalker in Frankfurt werde ich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen. Für uns kann in dieser Saison wieder mal nur das übliche Minimalziel geben: die Dortmunder müssen auf jeden Fall hinter uns sein. Und das sind sie und bleiben sie auch.“

      Polizeihauptmeister Gerber stimmte sofort zu und gab dann noch zu bedenken, dass in diesem Jahr ohnehin im Fußball andere Dinge wichtiger seien. In etwas mehr als einem Monat würde in Deutschland schließlich die Fußball-Weltmeisterschaft beginnen.

      „Meinst du, unsere Jungs haben eine Chance?“

      Davon war Gerber gar nicht überzeugt, weil er den Trainer der deutschen Nationalmannschaft als Weichei bezeichnete.

      „Zumindest wird die ganze Sache für uns eine Menge Überstunden bedeuten.“

      Und weil diese Behauptung zwischen ihnen ganz offensichtlich alles andere als strittig war, wurde es wieder still im Wagen.

      Auch ihren liebsten Zeitvertreib für nicht enden wollende Nachtschichten hatten sie gerade bereits hinter sich gebracht. Über die kilometerlange Grillostraße waren sie quer durch Schalke gefahren und hatten wie immer vorher eine Wette darüber abgeschlossen, wieviele Pkw wohl diesmal regelwidrig entgegen der Fahrtrichtung am Straßenrand geparkt sein mochten. Heute nacht hatte Westermann das Spielchen gewonnen. Neun hatte er getippt, und es waren sieben gewesen. Gerber hatte mit zwanzig die kriminelle Energie seiner Mitmenschen wie immer ganz gehörig überschätzt.

      Nun standen sie an der Einmündung der Magdeburger in die Bismarckstraße, und als die Ampel endlich auf Grün umsprang, lenkte Gerber den Wagen langsam nach links und ließ ihn dann mit geringer Geschwindigkeit über die völlig menschenleere Straße in Richtung Buer zockeln, als wisse er beim besten Willen nicht, was sie hier um diese Zeit eigentlich zu suchen hatten. Selbst der Bahnübergang der Emschertalbahn, an dem sich tagsüber die Autos alle Nase lang in beide Richtungen kilometerweit stauten, schien in einen tiefen Dornröschenschlaf verfallen zu sein.

      „Arsch der Welt", sagte Westermann leise. „Echt Arsch der Welt."

      „Kanakengegend", schränkte Gerber ein. „Hier hausen doch nur noch Kanaken." Und dann war Westermann froh, dass der Kollege seine Meinung zu Ausländern im allgemeinen und Türken im speziellen nicht weiter ausführte.

      Dabei gab es einen wahren Kern in dem, was Gerber gesagt hatte: Vor ein paar Wochen war ein großer Artikel im „Stern“ erschienen über die immer weiter um sich greifenden Slumviertel in deutschen Großstädten, und dieser Stadtteil Bismarck und diese Straße, über die sie gerade fuhren, waren mit Fotos als unrühmliche Beispiele genannt worden.

      Auf der rechten Seite tauchte der Schacht 3 der vor ein paar Jahren stillgelegten Zeche Consol auf. „Gespenstisch", meinte Gerber gereizt. „Absolut gespenstisch. Heute müssen wir im Ruhrgebiet schon ins Museum gehen, um zu wissen, wie ein Pütt aussieht."

      Westermann lachte kurz und sagte nichts. Und als habe ihn diese Reaktion des Kollegen endgültig wütend gemacht, fuhr Gerber fort: „Hugo haben sie doch jetzt auch noch dicht gemacht. Wo soll denn das noch hinführen?“

      Westermann hob wie gelangweilt die Schultern. „Ich weiß es auch nicht. Ist mir auch völlig egal.“

      Natürlich war es ihm nicht egal, was gerade in den letzten Wochen und Monaten wieder an Horrormeldungen über die wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebiets in den Massenmedien verbreitet worden war. Wegen der seit Jahren insgesamt schlechten wirtschaftlichen Situation konnte der Bergbau endgültig nicht mehr subventioniert werden. Die Tonne Kohle aus Nordamerika oder Australien kostete ohnehin mitsamt Beförderungskosten um die halbe Welt gerade einmal die Hälfte des Preises, den die einheimische Kohle verursachte. Die Länder Osteuropas produzierten den Stahl viel billiger als die Betriebe, die irgendwelche Umstrukturierungen von Thyssen oder Krupp noch übrig gelassen hatten. Und nun ging es auch noch mit der Automobilindustrie bergab. Das chronisch kranke Ruhrgebiet würde es in Zukunft noch weiterhin mit voller Wucht treffen.

      Und wenn man sich nach den Gründen für das Entstehen von Slums fragte, so lagen die Antworten doch auf der Hand: In einer Stadt wie Gelsenkirchen lag die Arbeitslosigkeit bei fast 20 Prozent, es fehlte an neuen Betrieben, die die arbeitskraftintensiven Industrien Kohle und Stahl ersetzen konnten, und mit den Arbeitsplätzen im Bergbau waren vor allem die Strukturen verloren gegangen, die über mehr als ein Jahrhundert Menschen aus aller Herren Ländern zu Bürgern des Ruhrgebiets gemacht hatten. Ein Bergmann hatte sich unter Tage immer auf seinen Kumpel verlassen müssen, ganz gleich wo der herkam. Heute gab es in allen Städten des Reviers Viertel, in denen man die besten Chancen hatte, von ausländischen Jugendlichen nicht nur angepöbelt zu werden. In einigen Städten des Ruhrgebiets war bereits von sogenannten no-go-areas die Rede, ein Begriff, den man noch vor ein paar Jahren höchstens im Hinblick auf amerikanische Großstädte gekannt hatte.

      Über Jahrzehnte hatte eine Clique von angeblich roten Kommunalpolitikern so gut wie nichts getan, um dieser Entwicklung, die schließlich nicht über Nacht gekommen war, entgegenzuarbeiten. Ihre Wiederwahl mit Ergebnissen von über 60 Prozent war immer nur eine Formsache gewesen. Anstatt die Probleme anzugehen, wurde vor allem völlig unverantwortliche Sozialkosmetik betrieben: Bergleute wurden mit 49 Jahren bei vollen Bezügen in den Ruhestand versetzt, und wer dummerweise noch seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen musste, der zog lieber gleich fort: Die Nachbarstadt Essen hatte den traurigen Rekord inne, die am schnellsten schrumpfende Großstadt Europas zu sein.

      Natürlich wusste Westermann alles das, aber er hatte nun einfach keine Lust dazu, sich zum zigsten Mal in dieser Woche Gerbers wüste Beschimpfungen der angeblich