Und so sollte es nie herauskommen, dass es für die ganze Sache nur eine plausible Erklärung geben konnte: Der Mörder war im Zug gewesen. Aber er musste befürchtet haben, dass die Polizei ihm auf den Fersen war. Und in Rotthausen, kurz vor dem Hauptbahnhof Gelsenkirchen, wo die Bahnlinie von Essen auf die nördliche Ost-West-Verbindung des Ruhrgebiets trifft und die Züge ihr Tempo stark verringern müssen, musste der Täter aus dem Zug gesprungen sein.
Sie hätten eine Schlägerei in Rotthausen schlichten müssen, sagten die beiden Beamten zur Entschuldigung dafür, dass sie viel zu spät am Hauptbahnhof eintrafen. Ein junger Mann sei von ein paar Halbstarken belästigt und ziemlich derbe verprügelt worden.
"Eine Scheißorganisation ist das", fluchte Hauptkommissar Bremminger, der zur Unterstützung seines Kollegen aus Essen ebenfalls anwesend war. Er war enttäuscht darüber, dass die ganze Aktion nichts gebracht hatte.
Es ist nicht auszudenken, was Bremminger gesagt hätte, hätten die beiden Beamten nicht gelogen.
Diese Nacht hatte also viel Arbeit und viel Ärger gebracht. In der nächsten Woche sollte die zentrale Ermittlung des Falles mit Dortmund als federführender Dienststelle beginnen. Und schon kurz nachdem diese Sonderkommission die Arbeit aufgenommen hatte, mussten die Beamten der Dortmunder Kripo einen schlimmen Verdacht hegen: Der Täter hatte noch weitere Pläne, und offenbar fühlte er sich unter Zeitdruck. Denn bereits am folgenden Donnerstag gab es das nächste Opfer zu beklagen. Im Bochumer Bergmannsheil wurde während des Nachtdienstes ein Krankenpfleger auf die bekannte Weise ermordet.
Und dann hatte sich plötzlich etwas geändert. Die Berichterstattung über die Ereignisse in den Medien waren für die Menschen keine unverbindliche Unterbrechung ihres langweiligen Alltags mehr. Angst machte sich breit, zumindest in den Städten des Ruhrgebiets. Es war einfach nicht normal, was da geschah, es war nicht mehr zu begreifen. Von einem gemeingefährlichen Verrückten sprach nun nicht nur die Boulevardpresse.
Eine Pressekonferenz der Dortmunder Sonderkommission brachte am folgenden Freitag neue Erkenntnisse, die die Öffentlichkeit dann wieder beruhigen konnten. Nach den bisherigen Untersuchungen stand es angeblich außer Zweifel, dass alle fünf Opfer Homosexuelle waren.
Damit hatte das Unfassbare für die Menge wenigstens ein Gesicht, das Unnormale, Perverse hatte plötzlich einen Namen, der der Menge seit jeher geläufig und vertraut war: So etwas passierte eben in homosexuellen Kreisen. Natürlich. War doch schon immer so.
6
Immer wieder kamen Tage, die einfach unerträglich waren. Früher hatte Börner dieses Gefühl Depression genannt. Er hatte ganze Bibliotheken zu diesem Thema gelesen. Jetzt war das natürlich alles Unsinn. Das Gefühl war im Grunde die Angst, sich mit seinem eigenen jämmerlichen Leben ganz unausweichlich konfrontiert zu sehen, das Wissen, mit dem eigenen Schwulsein einfach nicht fertigzuwerden, davor wegzulaufen. Er fand eben zu oft Männer geil, wollte sich zu oft an deren Ärschen und Schwänzen zu schaffen machen und machte letztlich ohnehin nichts: Das konnte ja nicht gut gehen, dabei musste man depressiv werden.
Dieses Gefühl der Unerträglichkeit, des Ekels vor sich selbst, kam in der Regel nicht plötzlich und unerwartet, sondern kündigte sich an. Die Summe der täglichen Frustsituationen häufte sich an, wurde als ein immer größer werdender Berg nach vorne gerollt. Börner spürte es jedes Mal, wie seine Bewegungen langsamer wurden, wie seine Kräfte nachließen. Er konnte aussteigen, einen Abend vielleicht, wenn er sich volllaufen ließ. Insgesamt beschleunigte die Sauferei den Prozess aber nur: Irgendwann stand er dann mit schöner Regelmäßigkeit vor dem Unausweichlichen wie das Kaninchen vor der Schlange.
Es gab Tage, die für den Ausbruch dieses Gefühls besonders geeignet waren: Börner hatte Angst vor den Sonntagen, besonders vor den Sonntagnachmittagen, und jedes Mal, wenn ihm diese Angst bewusst wurde, wurde sie im Laufe des Tages auch bestätigt.
Die Verachtung der eigenen Person war das Schlimmste. Es war die Überzeugung, versagt zu haben, überhaupt immer zu versagen. Er machte eben alles falsch, die anderen machten alles richtig. Vor allem die anderen Männer. Die Wiederkehr des immer Gleichen tat ein übriges. Das war nicht nur heute so, das war einfach immer so. Es musste angeboren sein! Und es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann man es nicht mehr ertragen konnte und den dann einzig möglichen Ausweg wählte.
Manchmal sehnte er sich danach, endlich jemanden zu treffen, der ihn verstand, mit dem er über seine Probleme reden konnte. Aber dann fand er auch das wieder typisch für sich, fand es ekelhaft, dass er mit seinen Problemen nicht alleine fertig wurde, und dann unternahm er letztlich gar nichts, um einen Freund zu finden.
Anstatt zu suchen fand er nur: Jeden Tag fand er einen anderen Mann toll, den er zufällig in der Stadt, im Büro, an der Uni oder sonst wo gesehen hatte. Natürlich konnte man diese Männer nicht kennenlernen. Nur maßlos bewundern. Meistens konnte man diesen Männern nur hinterher laufen, musste sich erniedrigen und dabei immer Angst haben, sich lächerlich zu machen.
Aber was bewunderte er eigentlich, wenn er diese Männer sah? Da waren Gesichter, die lediglich einigermaßen akzeptabel sein mussten, wenn nur der Rest stimmte; da waren vor allem Ärsche, Oberschenkel, Hosen, in denen sich ein Schwanz als möglichst großes und fleischiges Etwas abzeichnen konnte. Und da war der Wunsch, sich diesen Ärschen, Oberschenkeln und Schwänzen bedingungslos auszuliefern, bis der eigene Arsch, die eigenen Oberschenkel, der eigene Schwanz nicht mehr da waren und der Hass anfing oder der Wunsch, sich selber einfach auszulöschen.
Am späten Nachmittag, als er schon längst nicht mehr sagen konnte, was er den ganzen Tag über nun eigentlich gemacht hatte, nahm Börner den Lokalteil der Tageszeitung vom Samstag zur Hand. Er konnte abends in die Oper gehen, und für einen Augenblick holte ihn diese Vorstellung aus seinen trübsinnigen Grübeleien. Er wusste aber sehr bald, dass er es ohnehin nicht tun würde.
Stattdessen saß er am Wohnzimmerfenster, stierte in den pausenlos fallenden Regen und bedauerte sich selbst.
Diese Stadt war wirklich scheußlich.
Noch vor 130 Jahren war hier ein Dorf mit ein paar hundert Einwohnern und sonst nichts. Und als es dann mit dem Bergbau losging, da war von Planung und Organisation nichts zu spüren. Wo man gerade auf Kohle stieß, da wurde eine Zeche hingestellt, und ringsum bauten die von überall her zugezogenen Menschen ihre Häuser, weil sie ja irgendwo wohnen mussten. Ein völlig planloses Durcheinander von Wohnflächen, Fabrikanlagen und Brachland war die Folge, und gerade ihrer sogar im Ruhrgebiet einzigartigen Hässlichkeit verdankte die Stadt ihren Ruf. Einen schlechten zwar, aber immerhin.
Nur die Menschen fühlen sich hier wohl und wollen nirgendwo anders wohnen. Es regt sich hier niemand auf über wilde Gärten, ungepflegte Laubenkolonien, Zechenhäuser voller Taubenscheiße und Badeszenen im Rhein-Herne-Kanal. Man lebt und lässt leben, und doch lässt es sich nicht mehr verschleiern, dass diese Art zu leben und leben zu lassen langsam aber sicher ausstirbt.
Bald würde er sich noch über jede Giftmülldeponie freuen, weil sie zumindest da ihre grässlichen Eigenheime nicht hinstellen konnten. Börner wohnte seit 1974 in Gelsenkirchen. Zuvor hatte er bei den Eltern in Gütersloh gewohnt, aber schon mit 16 war er nach der Mittleren Reife ausgezogen und hatte die Polizeischule in Bochum besucht. Mehr aus Langeweile denn mit festen Vorstellungen hatte er nach der Ausbildung das Abendgymnasium in Gelsenkirchen besucht und 1978 als Bester das Abitur bestanden.
Auch den Kommissarslehrgang auf der Fachhochschule in Dortmund hatte er als Bester absolviert. Börner musste lachen: interessiert hatte ihn die ganze Sache da so gut wie gar nicht. Wirklich interessiert hatte ihn nur sein ehemaliger Kollege Milewski. Milewski war für ihn der Mann überhaupt.
Dass er dann 1982 ausgerechnet mit Milewski zur Kripo nach Gelsenkirchen gekommen war, damit hatte er damals überhaupt nicht