Auf Biegen oder Brechen. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750218949
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an diesem Morgen, Ende April, herrschte wenig Verkehr, da die Straße für die Zulieferer der großen Warenhäuser in der Nähe kaum eine Rolle spielt. Alles schien wie an jedem Morgen menschenleer.

      Aber das schien nur so.

      Und doch musste irgendetwas verantwortlich dafür sein, dass die Nachforschungen der Polizei letztlich ein nur unbefriedigendes Ergebnis brachten. Den grauen VW-Polo, der dort seit etwa 6 Uhr schon am Straßenrand parkte, hatte hinterher, als sich eine dichte Menschenmenge in der Straße drängte, niemand bemerkt. Dies ist um so erstaunlicher, als von Beginn an jemand in diesem Wagen gesessen und unablässig das siebenstöckige Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet hatte. Es war ein Apartmenthaus, dessen Bewohnern auf einem großen Plakat neben dem Haus überdurchschnittlicher Wohnkomfort bei citynaher Wohnlage versprochen wurde. Nichts sollte zu wünschen übrig bleiben.

      Erst als die Tür des Hauses sich gegen kurz nach halb neun öffnete und ein kräftiger, gut aussehender Mann in mittlerem Alter das Haus in Richtung der rechts auf einem gänzlich betonierten Hof liegenden Garagen verließ, zog der junge Mann im grauen VW-Polo langsam die Klinke der Wagentür zurück, stieg ohne Hast aus und ließ die Tür des Wagens wieder zuschlagen. Er verschloss sie nicht.

      Der Mann aus dem Haus hatte inzwischen den mit Autos verstellten Hof erreicht und hatte den Schlüssel in das Schloss eines metallicfarbenen Porsche gesteckt, als jemand hinter ihm leise einen englisch klingenden Vornamen rief. Nicht laut und forsch, eher mit unterdrückter, schüchterner Stimme, als wolle er keinen anderen als eben diesen Mann wegen einer nicht für andere bestimmten Angelegenheit auf sich aufmerksam machen oder als müsse er sich Klarheit über die Identität des Angesprochenen verschaffen. Trotz allem aber war die Stimme entschieden genug, den Mann zu erreichen.

      Da er in Eile war und zuvor niemanden auf dem zur Straße hin offenen Hof gesehen hatte, drehte sich der Angesprochene hastig um. Dicht vor ihm, keine drei Meter entfernt, stand ein junger Mann, der ihn hilflos ansah. "Was machst du denn hier?" fragte der Angesprochene, ohne dabei die Hand von der inzwischen halb geöffneten Wagentür zu lassen.

      Ganz langsam zog der junge Mann die Hand aus seiner Jackentasche - erst dadurch fiel dem Angesprochenen überhaupt auf, dass der andere die eine Hand in der Jackentasche verborgen hatte - und richtete auf den Körper des Mannes neben dem Porsche eine Pistole. Den Schalldämpfer konnte der Mann noch erkennen, bevor ihn ein Schuss in den Unterleib traf und ihn wie ein Klappmesser in der Hüfte zusammenzucken ließ. Mit vor wahnsinnigem Schmerz und ungläubigem Entsetzen schier aus dem Schädel springenden Augen schlug der Mann vornüber auf den Hof aus Beton, blieb dort unter krampfhaften Zuckungen liegen, unfähig, den Schmerz durch einen erlösenden Schrei zu mildern. In diesem Augenblick passierte keine zehn Meter von dem Mann entfernt ein Kleintransporter den Hof.

      Der junge Mann bückte sich kurz zu dem auf dem Boden sich windenden Körper, schien zu warten, bis seine Augen die des anderen fixiert hatten, sagte leise etwas, doch immer noch so laut, dass er sicher sein konnte, der andere würde ihn verstehen, und beendete abrupt die Zuckungen des Körpers durch einen Schuss in den Kopf. Das Gesicht des Mannes war nicht mehr gut aussehend. Es war gar nicht mehr. Dann ging der junge Mann langsam vom Hof.

      Die augenblicklich rings um den leblosen Körper entstehende riesige Blutlache interessierte ihn nicht mehr. Erst wenige Minuten später interessierte sie einen anderen Bewohner des Hauses und veranlasste ihn, sofort die Polizei zu rufen.

      Als keine fünf Minuten nach dem Anruf ein erster Streifenwagen die Straße mit dem seltsamen Namen heraufgerast kam, hatte sich bereits eine Menschenmenge um die Leiche auf dem Hof gebildet.

      Die etwas später eintreffenden Beamten der Kriminalpolizei hatten sehr schnell das Gefühl, die in der Menschenmenge hektisch und halblaut geäußerten Vermutungen, Verdächtigungen und angeblichen Beobachtungen seien letztlich nur der Ausdruck des Unfassbaren, das keiner allein ertragen konnte und das doch irgendeine Erklärung haben musste. Wie konnte so etwas am helllichten Tag mitten in der Stadt passieren? Es war schließlich nicht normal, dass ein Mensch auf offener Straße erschossen wurde. Noch dazu auf diese Art und Weise: Von dem Kopf des Getöteten war praktisch nichts mehr übrig geblieben. Normal war somit nur, dass die Polizei die Menschenmenge ebenso energisch wie erfolglos

      zum Weitergehen aufforderte.

      Konkretes zum Tathergang konnte niemand sagen, und die Polizei begann nach der Feststellung der Identität des Ermordeten, sich durch die Befragung von Nachbarn ein Bild von dem Toten zu machen.

      Zu dieser Zeit war der graue VW-Polo längst verschwunden.

      Bei den polizeilichen Bemühungen kam nicht viel heraus: Der Tote war in der Versicherungsbranche tätig gewesen, nur ein paar Straßen weiter hatte er eine Agentur gehabt. Er hatte alleine gelebt, und keiner der übrigen Bewohner kannte den Mann genauer.

      Vielleicht hat er einem Kunden irgendeine völlig überflüssige Versicherung angedreht, dachte Hauptkommissar Diethelm; und der hat ihn dafür umgelegt. Bei dieser Vorstellung musste Diethelm grinsen. Möglich ist es doch, dachte er dann, als wollte er sich vor sich selber für sein blödes Grinsen rechtfertigen. Die Leute brachten sich doch heute wegen Lappalien um.

      Dann grinste Diethelm nicht mehr. Er tat das ohnehin fast nie. Er war Choleriker und bei den Kollegen äußerst unbeliebt und gefürchtet.

      2

      Börner war mürrisch.

      Zwar war diese Stimmung bei ihm keine Seltenheit, in den letzten Wochen und Monaten war sie aber schon fast zum Dauerzustand geworden. Nach dem Ausscheiden aus dem Polizeidienst vor mittlerweile fast einem Jahr hatte er eine ganze Zeit lang von seinen Ersparnissen gelebt; Anspruch auf irgendwelche finanziellen Zuwendungen hatte er nicht. Schließlich hatte er ja selber bei der Polizei die Brocken hingeworfen und geglaubt, auf die Arbeit generell und auf die Arbeit bei der Polizei erst recht verzichten zu können.

      Anfangs war er ganz begeistert gewesen: er hatte es den anderen gezeigt, und nun konnte er sich endlich nach einer für ihn geeigneten Beschäftigung umsehen.

      Er fand sie nicht. Er fand gar keine Beschäftigung.

      Ernsthafte Gedanken hatte er sich auch nie darüber gemacht und etwas Konkretes getan schon gar nicht. Zum Arbeitsamt zu gehen, empfand er als das Allerletzte. Wenn irgendwelche Bekannten ihn nach seinen weiteren Plänen gefragt hatten, hatte er jedes Mal lediglich gesagt, es werde sich schon etwas ergeben. Die anderen nahmen das zwar zur Kenntnis, aber offensichtlich glaubte ihm das keiner so recht. Jedenfalls hatte Börner immer dieses Gefühl gehabt, und deshalb mied er den Kontakt zu anderen mehr und mehr. Letztlich war er davon überzeugt, gar keine Bekannten mehr zu haben. Freunde ohnehin nicht.

      Es gab aber eine Sache, die ihm irgendwann klar geworden war: Offenbar fiel man als Arbeitsloser auf, und das wollte er auf keinen Fall. Über die armen Arbeitslosen gescheit und mitleidsvoll zu reden, das war eine Sache; es selber zu sein, das war eine ganz andere. Und plötzlich machte es ein schlechtes Gewissen, morgens so lange schlafen zu können, wie man wollte, wenn andere zur Arbeit gingen. Irgendwann kam man sich ausgestoßen vor, dann überflüssig und schließlich wie ein faules Schwein, das selber schuld war.

      Als es bei ihm soweit war, versuchte Börner, sich selber davon zu überzeugen, dass er sich nur auf seine kreativen Fähigkeiten, die er zu haben glaubte, konzentrieren müsste: Er wollte unbedingt schreiben. Wenn er sich selber nur hinreichend Zeit ließ, davon war er überzeugt, würde er irgendwann in der Lage sein, durch seine kreativen Fähigkeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Er brauchte also Zeit, viel Zeit.

      Nun hatte er Zeit, sehr viel Zeit, die mit vergeblichen Versuchen verstrich, irgendetwas zu Papier zu bringen. Sein Kopf war voll von Bildern und Ideen, und alle diese Bilder und Ideen hatten zu tun mit seinem Schwulsein. Er wollte Geschichten über das Schwulsein schreiben, um endlich einmal Klarheit über diese Sache zu gewinnen. Und da er nach wie vor zuviel Alkohol trank, kam es oft vor, dass er sich an Abenden stundenlang damit beschäftigte, Papier seitenweise zu beschreiben, um es am nächsten Morgen als das unerträgliche Gekritzel eines Besoffenen in den Papierkorb zu werfen. War das oft