Verdis Galeerenjahre haben begonnen, Piave wird ihm als Leidensgenosse zur Seite stehen.
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rancesco Maria Piave (Murano 1810 – Mailand 1876) wird als Sohn eines Glasherstellers geboren. Er wird in einem Priesterseminar erzogen und studiert zunächst Theologie. 1827 zieht er mit seiner Familie zuerst nach Pesaro, dann nach Rom, wo er der Theologie den Rücken kehrt und sich den Studien der Philosophie und Rhetorik zuwendet. In Rom beginnt er, Artikel und Novellen (sein Vorbild ist Walter Scott) zu verfassen, was zu einer Mitarbeit bei der Revue des Deux Mondes führt. Nach dem Tod des Vaters (1838) kehrt Piave nach Venedig zurück und findet dort bei der Druckerei Antonelli eine Beschäftigung als Korrektor. Gleichzeitig setzt er seine literarische Tätigkeit fort (unter anderem verfaßt er Gedichte in venezianischem Dialekt), die bald die Aufmerksamkeit der intellektuellen Kreise Venedigs auf sich zieht.
Graf Mocenigo, der Präsident des Direktoriums des Teatro La Fenice, bietet ihm 1842 die Mitarbeit als Hauslibrettist an diesem Opernhaus an. Vor seiner Arbeit an Ernani hat Piave nur ein einziges Mal mit einem Opernlibretto zu tun gehabt: bei der Mitautorschaft (zusammen mit Peruzzini) am Textbuch zu Pacinis Il duca d’Alba. Im Laufe seiner Karriere wird Piave rund siebzig Libretti verfassen (elf davon bleiben unvollendet), darunter Texte für Komponisten wie die Brüder Luigi und Federico Ricci, Balfe, Mercadante, Ponchielli und heute weniger bekannte Komponisten.
Piave kann seine Stärken am besten bei großen dramatischen Stoffen ausspielen, bei denen er tiefes psychologisches Einfühlungs- und Gestaltungsvermögen sowie großes Geschick beim operngerechten Vereinfachen und Raffen der umfangreichen Vorlagen Shakespeares, Byrons, Hugos usw. unter Beweis stellt. Über ihn wurde deswegen einmal geschrieben: „Piave ist ein Meister im Verkürzen und Verkleinern. Er versteht es, das Meer in einem Löffel einzufangen.“ Das leichte, heitere Genre ist ihm weniger kongenial. Er kennt die Erfordernisse der Opernbühne genau und ist sich bewußt, daß die romantische Oper nach großem rhetorischem Gestus verlangt. Dennoch versucht er immer wieder, seinen Libretti einen sprachlich „normalen“ Tonfall zu geben. Wenn ihm von manchen italienischen Kritikern bisweilen ausgefallene Wortwahl und gespreizte Formulierungen vorgeworfen wurden, so steckt oft nur sein geschicktes Bestreben dahinter, die Zensur hinters Licht zu führen.
Mit seiner pragmatischen Arbeitsweise, dem Handlungsverlauf der Vorlagen zu folgen, manche Passage sogar im Originalwortlaut zu übernehmen, jedoch auch die Charaktere und ihr Verhältnis zueinander so weit zu verändern, wie es die Anforderungen der Opernbühne verlangen, entspricht Piave den Wünschen Verdis. Er weiß, daß ein Opernlibretto anderen Gesetzen unterliegt als ein Stück für das Sprechtheater. Für einen Operntext muß – besonders bei personenreichen, handlungsmäßig komplexen und rhetorisch ausgefeilten Dramen wie jenen Shakespeares oder Hugos – zwangsläufig nicht nur eine Vereinfachung der Charaktere, sondern auch eine Reduzierung der Anzahl der Szenen und der Figuren vorgenommen werden. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, was ein Opernlibretto zu leisten hat: Erstens, dem Zuhörer verbal jene Informationen zu vermitteln, die er zum Verständnis des Handlungsablaufs benötigt, und zweitens, der Musik die Vorbedingungen in Form eines Gerüsts zu liefern, anhand dessen sie sich mit all ihren Möglichkeiten entfalten kann.
Vereinfachend kann man sagen: Was das Libretto nicht sagt oder nur andeutet, wird von der Musik gesagt. Oder, überspitzt formuliert: Ein gutes Libretto soll gar keine großen literarischen Qualitäten haben, denn sonst bedürfte es der Musik nicht. Sowie: Ein schlechtes Libretto kann eine gute Oper niemals verhindern. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geht sogar so weit zu behaupten, er „glaube nicht, dass das Opernlibretto eine literarische Form ist und in der Literatur eine Rolle gespielt hat.“[200]
Verdi ahnt wohl schon bei der ersten Zusammenarbeit mit Piave, daß dieser in seinen Händen ein williges Instrument sein würde, ein „literarischer Sekretär“, dessen Libretti er selbst als Co-Autor firmieren können würde. Während er einen Romani, Cammarano oder Maffei zuvorkommend und respektvoll behandelte, entstand zwischen ihm und Piave eine Freundschaft, aber auch ein Verhältnis, das, wie es einmal formuliert wurde, jenem zwischen Herrn und Hund geähnelt haben soll. Wie essentiell für Verdi die Begegnung mit Piave allerdings wirklich ist, wird anhand einer Theorie deutlich, die der Herr-Hund-Formulierung diametral entgegengesetzt ist: Der Universitätsprofessor für englische Literatur, Shakespeare-Herausgeber, Literaturkritiker und Übersetzer Gabriele Baldini (Rom 1919-1969) vertritt die Meinung, daß die Zusammenarbeit mit Piave Verdis erste Begegnung mit sich selbst bedeutete. [201] Die Librettisten vor 1843 hatte Verdi höflich erduldet, nun ging es ihm darum, initiativ zu werden, Kreativität auch im Bereich des Librettos zu entwickeln. Baldini meint sogar, daß Verdis Zusammenarbeit mit Piave bedeutender sei als die mit Boito. Im ersten Fall handelt es sich um zwei junge, beinahe gleichaltrige Künstler am Anfang ihrer Karriere, im zweiten um die Arbeit mit einem Librettisten, der auch als Schriftsteller und Komponist arbeitet, um fast dreißig Jahre jünger ist als Verdi und ihn aufgrund des Altersunterschiedes und einer respektbedingten Distanz nie so gut wie Piave versteht.
Piaves Libretti sind die schönsten für die Musik Verdis – auch vom literarischen Standpunkt aus zweifellos viel schöner, da sie besser gemacht sind als die Boitos – und zwar einfach deshalb, weil es Verdi selbst war, der die Substanz und sogar Details geschaffen hat: Sie sind auch deshalb die schönsten, weil Piave von Kunst mehr versteht als Boito. Boito ist ein Künstler und ein Literat; er hat aber Verdi nie bis ins Letzte verstanden, er hat darüber hinaus immer versucht, ihn ein wenig nach seinem Ebenbild zurechtzubiegen. Piave hat mit tiefer kritischer Intuition auf den ersten Blick erfaßt, worum es ging und hat einfach zugelassen, daß ihm die Libretti in den Schoß fielen.[202]
Dies mag für manchen eine höchst überraschende Analyse sein. Sie ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß Verdi ab dem Macbeth (1847) die Gewohnheit entwickelt, selbst ein Prosalibretto des jeweiligen Stücks zu verfassen, das er dann seinem Librettisten zur Versifikation übergibt.
Baldini untermauert seine Erkenntnis durch die Feststellung, daß Boitos Prosa im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Autoren heute kaum mehr lesbar ist. Dem ist hinzuzufügen, daß die Libretti des souveränen Sprachvirtuosen Boito sich einer originellen, überaus interessanten, geistreichen, aber, wie manche Kritiker anmerken, auch hochgestochenen, gestelzten Kunstsprache bedienen, die stellenweise nur höhergebildeten Muttersprachlern unmittelbar zugänglich ist. Dieses bewußt gewählte preziöse Vokabular setzt Boito, besonders im Falstaff, gekonnt als Stilmittel ein. Die Piave gegenüber manchmal herablassende Kritik im deutschen