Dieser Cromvello ist gewiß nicht von großem Interesse, wenn man die Anforderungen des Theaters bedenkt. Die Anlage [des Stückes] ist ordentlich, klar und alles in allem gut gemacht, es fehlt aber an Handlung: schuld daran ist mehr das Sujet als der Dichter. [...]
Oh, wenn man den Hernani machen könnte, das wäre etwas Schönes! Es ist schon richtig, daß es für den Dichter eine große Anstrengung bedeuten würde, aber ich würde alles daran setzen, ihn dafür zu entschädigen, und wir könnten mit Sicherheit beim Publikum große Wirkung erzielen.
Herr Piave hat eine leichte Hand beim Verseschmieden, und beim Hernani wäre nur zu ordnen und zu straffen: die Handlung ist fertig: und das Interesse ist riesig![168]
Noch gibt es hinsichtlich des Umstiegs von Cromvello auf Hernani – immerhin ist es inzwischen Mitte September geworden – offene Fragen: Piaves Honorarforderung von 400 österreichischen Lire zusätzlich zu den für das fertige Cameron/Cromvello-Libretto geschuldeten 600 scheint Verdi zu hoch zu sein; er wird von ihm eine Reduzierung auf 300 österreichische Lire erreichen. Graf Mocenigo behält bei dem ganzen Hin und Her die Übersicht: Er favorisiert den Hernani und erhält vom Direktorium des Fenice die Zustimmung für dieses Projekt. Verdi gibt am 25. September seinen Segen, der Allan Cameron/Cromvello wird allerdings als Reserve in Bereitschaft gehalten, sollte die Zensur den Ernani (der Titel ist inzwischen italianisiert worden) ablehnen: Immerhin kommt in der Oper eine Verschwörung gegen einen König vor, und die Zensur in Venedig geht noch strenger vor als die in Mailand.
Kaum ist Piaves Widerstreben, den Cameron ad acta zu legen, überwunden – die daraus entstehende Verstimmung zwischen Verdi und dem Librettisten muß von Brenna geschlichtet werden –, konstruieren Mocenigo und Piave ein Rohgerüst der Handlung der Hugo-Oper: Die ersten beiden Akte des Dramas werden zu einem zusammengefaßt, dabei wird die Tradition der arie di sortita, der Auftrittsarien der einzelnen Figuren, beachtet. Auf Rezitativ, Kavatine und Cabaletta des Tenors folgen Rezitativ, Kavatine und Cabaletta des Soprans, hierauf Rezitativ und Duett Sopran-Bariton, Szene und Terzett Sopran-Tenor-Bariton, und schließlich Rezitativ und Kavatine des Basses, die das Finale I einleitet. Doch diese Abfolge macht Verdi Sorgen:
Herr Piave hat noch nie [ein Opernlibretto] geschrieben, und daher ist es natürlich, daß er sich in diesen Dingen nicht auskennt. Denn wer wird die Primadonna sein, die hintereinander eine große Kavatine, ein Duett, das in einem Terzett endet und ein ganzes Finale singen könnte, wie dies im ersten Akt des Ernani der Fall ist? Herr Piave wird mir gute Gründe dafür vorbringen können, ich jedoch habe andere und antworte ihm, daß die Lunge dieser Anstrengung nicht standhält.[169]
Piave arbeitet unbeirrt weiter, Verdi stellt seine Zweifel hintan und ist mit seiner Arbeit zufrieden. Am 19. Oktober urgiert er bei Mocenigo die Vorlage des Don Gomez de Silva – so heißt die Oper inzwischen, der Zensur soll wohl Sand in die Augen gestreut werden – bei der Polizei. Deren Zustimmung läßt aber auf sich warten.
Verdi beschäftigt sich in der Zwischenzeit mit Besetzungsfragen. Schon bevor das Ernani-Projekt beschlossen war, war ihm die Altistin Carolina Vietti, zu dieser Zeit am Fenice unter Vertrag, ans Herz gelegt worden. Der Gedanke, eine Hosenrolle für diese Sängerin zu schreiben, liegt auf der Hand. Obwohl Verdi ein „eingeschworener Feind der Praxis [ist], daß eine als Mann verkleidete Frau eine Männerrolle darstellt“, scheint er anfänglich dem Drängen Brennas[170] nachzugeben: Ernani sollte demnach von einem Alt gesungen werden, Don Carlo von einem Tenor und Silva von einem Bariton. Eine nicht ganz so merkwürdige Lösung, wie man heute zu vermuten geneigt ist, wenn man an die Hosenrollen bei Rossini, Bellini, Donizetti und sogar Wagner (Rienzi) denkt. Trotz Verdis heftiger Abneigung gegen Frauen in Männerrollen sang 1848 die Altistin Marietta Alboni in der Ernani-Premiere der Londoner Covent Garden Oper (die englische Erstaufführung hatte 1845 am Her Majesty’s Theatre stattgefunden) die Partie des Don Carlo, nachdem diese von den zwei berühmten Baritonen Giorgio Ronconi und Antonio Tamburini abgelehnt worden war.
Als Ende Oktober die einschränkende Zustimmung der Zensur zum Entwurf der Oper vorliegt (die Bedingungen: In der Verschwörungsszene dürfen keine Schwerter gezogen werden, Ernani muß sich in der Aussprache mit Don Carlo als ergebener Untertan wohlverhalten, die Worte „Blut“ und „Rache“ müssen ausgemerzt werden, die Milde des Kaisers gegenüber den Verschwörern muß besonders hervorgehoben werden), ist die Frage der einzusetzenden Stimmkategorien nach wie vor ungeklärt. Nachdem ventiliert wurde, ob nicht Ernani besser von einem Tenor, dafür aber Don Carlo von einem Alt gesungen werden sollte, schlägt Mocenigo eine andere Lösung vor: Ernani Tenor, Don Carlo Tenor, Silva Bariton. Erst im November kommt es zu jener Lösung, die sich dann als die endgültige erwies.
Mitte November tritt eine Unterbrechung der Korrespondenz ein. Wir wissen nur, daß die Oper inzwischen L’onore castigliano heißt und daß Ricordi sie exklusiv erwirbt. Am 29. November wird das Libretto der Polizeidirektion in Venedig vorgelegt, am 3. Dezember trifft Verdi in Venedig ein. Die Proben zu I lombardi beginnen, am 6. Dezember stimmt die Zensur dem Libretto der neuen Oper, die jetzt endgültig Ernani heißt, zu, und Verdi vertieft sich ins Komponieren. Gleichzeitig ist Verdi mit den Proben für die Lombardi beschäftigt. Die Bemerkungen über die Sopranistin Sofia Loewe, die Verdi als schwierig beschrieben worden ist, werden sich erst zu einem späteren Zeitpunkt als zutreffend erweisen.
Venedig ist schön, es ist poetisch, es ist göttlich ... ich würde aber nicht gerne hier leben wollen. Mein Ernani kommt voran, und der Dichter macht alles, was ich will. Ich halte täglich zwei Proben für die Lombardi ab und alle geben sich größte Mühe, allen voran die Loewe.
Das erste Mal, als wir einander gesehen haben, war bei der ersten Probe zu den Lombardi: wir haben einige wenige Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, und das war alles; ich habe sie nie besucht und hoffe auch, dies nicht tun zu müssen, außer wenn es unbedingt sein muß. Was den Rest anlangt, kann ich nur Gutes sagen, denn sie erfüllt ihre Pflicht äußerst gewissenhaft, ohne auch nur den leistesten Anschein von Kapricen zu zeigen.[171]
Die Saison wird am 26. Dezember (S. Stefano – Stephanitag – ist an italienischen Opernhäusern das traditionelle Eröffnungsdatum der Stagione, bis 1950 auch an der Mailänder Scala, deren Spielzeit erst ab 1951 am 7. Dezember beginnt[172]) feierlich mit den Lombardi eröffnet. Die Kassa verzeichnet eine Rekordeinnahme (4.345,33 österreichische Lire), und dennoch tritt das Unvorhersehbare ein:
Sie sind ungeduldig, die Nachrichten über die Lombardi zu erfahren und ich schicke sie Ihnen ganz frisch: es ist keine Viertelstunde her, daß der Vorhang gefallen ist.
Die Lombardi haben ein großes Fiasko erlebt: eines dieser wahrhaft klassischen Fiaskos. Alles wurde mißbilligt oder hingenommen, mit Ausnahme der Cabaletta der Vision. Das ist die einfache, aber wahre Geschichte, die ich Ihnen weder mit Vergnügen, noch mit Schmerz erzähle.[173]
Übertreibt Verdi? Gewiß, denn die Publikumsproteste wenden sich gegen den Tenor Conti, der für den Ernani vorgesehen ist, und nicht gegen seine Musik. Aus „guten Versen“ bestehe das Libretto und um ein „abwechslungsreiches und grandioses musikalisches Werk“ handle es sich, bescheinigt der Kritiker der Gazzetta Previlegiata di Venezia.
Drei Monate später ist bei Aufführungen der Lombardi in Venedig keine Rede mehr von einem Fiasko. Die „tausend Grüße“, die Verdi von einem gemeinsamen Bekannten „dem Ehepaar Poggi-Frezzolini“ von Mailand brieflich[174] nach Venedig ausrichten läßt, sind ein Dank für den Erfolg, den das Sängerehepaar in den Lombardi erzielt hat.
Mitte Jänner soll der Ernani in Szene gehen. Der wegen der Leistung Contis empörte Verdi stellt der Direktion des Fenice ein Ultimatum: entweder ein anderer Tenor für den Ernani oder Vertragsbruch. Der von Verdi seit der Mailänder Lombardi–Premiere geschätzte Tenor Carlo Guasco soll den Ernani verkörpern, da dieser Sänger aber in Turin engagiert und nicht früher frei ist, wird nach langem Hin und Her, nach notariell beglaubigten Erklärungen (Conti gibt seine schlechte Verfassung zu Protokoll