Sieben Farben. Anna J. Heeb. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna J. Heeb
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844262735
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ganzen Leben noch nicht gesehen hatten. Ein leichter Frühlingswind umwehte sie und es lag schwerer Blütenduft in der Luft. Leise hörte man den Bach hinter ihnen plätschern. Vögel sangen fröhlich vor sich hin.

      Lara musste an ihren Vater denken. Ob er hier auch schon einmal gewesen war? Sie versuchte sich vorzustellen, wie er hier einst stand und sich umschaute. Doch leider erinnerte sie sich kaum an sein Gesicht. Sie rief sich die wenigen Fotos, die sie zu Hause von ihm noch hatten, ins Gedächtnis. Ob er hier noch irgendwo war? Ob er sie vermisste?

      Schließlich sah Lara nach oben. Sie standen unter dem Baum, der das Bild begrenzt hatte. Tatsächlich. Es war eine alte Eiche.

      „Ui, die ist aber dick. Sie ist bestimmt ziemlich alt“, sagte Lara staunend, als sie an dem borkigen Stamm entlang nach oben schaute.

      „Also bitte, so etwas sagt man ja wohl nicht zu einer Dame!“ zischte es von oben herab. Lara zuckte zusammen, Peter machte vor Schreck den Mund auf und der Knonk – ja, er war mal wieder genervt. Aber bevor er zu seiner üblichen Schimpferei ansetzen konnte, tat dies schon die alte – pardon – die Eiche.

      „Ihr jungen Leute habt wirklich kein Benehmen mehr. Also so was. Wo kommt Ihr überhaupt her, so plötzlich und ohne Ankündigung?“

      „Sie… äh… Sie können sprechen?“ stammelte Lara ein bisschen ungläubig. Sicher sie hatte schon in vielen Geschichten von sprechenden Bäumen gehört. Eine Eiche war natürlich auch dabei gewesen. Aber sie hätte doch nie gedacht, dass sie mal vor einer stehen und dann auch noch von ihr angeraunzt werden würde.

      „Natürlich kann ich sprechen!“ zischte die Eiche mit hoher Stimme. „Wie alle Eichen. Was ist das denn für eine dumme Frage? Wo kommst Du denn her? Bei Euch können die Vögel wohl auch nicht fliegen, was? Ph… so was… gibt es doch gar nicht…“

      Die Eiche wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Laut rauschten ihre Blätter im Wind. Da schaute sie sich die Neuankömmlinge doch noch einmal etwas genauer an. „Moment mal. Ihr seid aber nicht von hier, oder?“ Sie zögerte ein wenig, dann fuhr sie fort: „Nein, ich weiß, Ihr seid die Palidonier, die Sehenden! Ach so, ja dann. Klar, in Eurer Welt können Bäume nicht sprechen. Gut, dann kann ich die Aufregung verstehen.“ Dann räusperte sie sich und sagte in feierlichem Ton und mit sehr hoher Stimme: „Willkommen, liebe Palidonier. Ich hoffe, Ihr werdet uns helfen können.“

      „Danke, liebe Eiche“, entgegnete Lara etwas verdattert.

      „Dann gibt es das alte Bild also noch? Oh wie schön!“ Die Eiche war jetzt ganz aufgeregt vor Freude. „Ich kann mich noch an den jungen Mann erinnern, wie er vor langer Zeit hierher kam, und das Bild malte. Landschaftsmaler war er, so hat er es mir erzählt. Und aus einer Gegend namens Lothringen stammte er…“

      „So, haben wir es jetzt. Ja? Seid Ihr soweit?“ Der Knonk stand wieder da und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Er deutete mit der rechten Hand in Richtung Palast, was so viel hieß, wie ‚Jetzt aber mal schnell’. Die drei machten sich auf dem schmalen Fußweg auf, dem Palast entgegen. Die Eiche rief ihnen noch ein freudiges „Viel Glück, Ihr Lieben!“ nach und raschelte wieder mit ihrem ausladenden Blätterdach.

      Auf ihrem Weg zum Palast bemerkten die beiden Kinder allerhand Seltsames, was dem Knonk, da er ja für gewöhnlich hier lebte, natürlich nicht auffiel. So wuchsen am Wegesrand wunderschöne Wegwarten. Ihre unglaublich blauen Blüten waren viel dicker als zu Hause. Und während man an ihnen vorbeiging, drehten sie sich einem nach, als schauten sie einem hinterher. Sobald man sie passiert hatte, schienen sie sogar die Köpfe zusammen zu stecken und miteinander zu tuscheln.

      „Lasst Euch von denen nicht aus der Ruhe bringen. Die schwätzen gerne…“, sagte der Knonk knapp, als er bemerkte, wie Lara und Peter staunend vor den Blumen standen. Daneben gab es hier und dort riesengroße Schmetterlinge. Sie schimmerten in allen erdenklichen Farben und schienen, je nachdem aus welcher Richtung man sie ansah, zu allem Überfluss ihre Farben auch noch zu wechseln. Außerdem brummten sie wie Hummeln. Die Hummeln dagegen flogen ganz leise und waren ziemlich klein, viel kleiner als herkömmliche Bienen. Am Himmel zog ein großer Schwarm Gänse. Jedenfalls dachte Lara das zuerst, bis der Schwarm weiter herunter kam, und sie erkennen konnte, dass es sich um Vögel handelte, die zwar die Silhouette einer Gans im Flug hatten, aber eher die Färbung von Kanarienvögeln aufwiesen. Sie kreischten wie Krähen. Zwischen den Blumen wuchsen winzige Tannen, nicht größer als Steinpilze. Dafür wurden manche Grashalme baumhoch, wie sie weiter hinten am Waldesrand erkennen konnte. Außerdem bildeten noch riesige Flockenblumen und Schafsgarben Teile des Waldes. Sie waren haushoch und ihre Blüten schimmerten violette und schneeweiß in der Frühlingssonne. Zwischen diesen seltsamen Waldgewächsen erkannte Lara plötzlich Giraffen. Sie streckten ihre langen Hälse ganz nach oben, um an die weichen Spitzen der Baumgrashalme zu gelangen. Aber irgendetwas stimmte auch mit diesen Giraffen nicht. Ach, ja. Sie hatten keine braunen Flecken, sondern trugen ein geringeltes Muster aus Streifen in Tiefrot und strahlendem Gelb. Auf ihrem Kopf ragten an der Stelle, wo sonst die kleinen Hörner saßen, purpurne Federn heraus und wippten heftig, sobald sie den Kopf bewegten…

      Ups. Beinahe wäre Peter über ein kleines Tier gestolpert, als er gedankenverloren den Weg entlang stapfte und dabei nicht aufhören konnte, sich über diese fremde Welt zu wundern. Was war das denn? ‚Das ist ja ein kleines Nashorn! Und es ist pink’, dachte er. Richtig, vor seinen Füßen stand ein Nashorn, nicht größer als eine Hauskatze und schaute ihn von unten trotzig an. „Man sollte schon schauen, wo man hingeht“, schimpfte es und ging dann seines Weges. Peter schaute ihm staunend nach.

      Sie kamen an einem Teich vorbei. Rosa Schwäne und blaue Enten planschten in dem kristallklaren Wasser. Gelbe und rote Mückenschwärme tanzten über die Wasseroberfläche. Ein Teil des Teiches war von Seerosen bedeckt. Ihre Farben schienen in dem hellen Licht regelrecht zu flirren und sich in ihre Einzelteile zu zerlegen. In der sumpfigen Uferzone erspähte Lara eine Schlange. Sie schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Ihr Schwanz trug farbige Federn. Sie hob den schweren Kopf und schaute die Fremdlinge an. „Guten… sss… Tag“, zischte sie. Ihre gespaltene Zunge bewegte sich dabei unablässig. „Ihr seid… sss… nicht… sss… von hier.“

      „Wir scheinen hier ja sehr aufzufallen“, raunte Peter Lara zu.

      Der Knonk drehte sich um und sagte: „Natürlich fallt Ihr hier auf.“

      „Guten Tag“, sagte Lara noch zu der Schlange, bevor sie schnellen Schrittes dem Knonk nacheilen musste. Peter tat es ihr gleich. Die Schlange schaute ihnen nach. „Ihr seid sss… aus Palidonien… sss… stimmt’s?“ zischte sie den beiden hinterher. Peter und Lara blieben wieder stehen und drehten sich um. Die Schlange schaute sie eine Weile lang an. Der Knonk ging derweil einfach weiter. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, dass die beiden Kinder immer noch bei der Schlange standen.

      „Ich kenne Eure Welt“, hob die Schlange schließlich an. „Ich war schon einmal dort, vor sehr langer Zeit.“ Dann richtete sie sich auf. Erst jetzt konnte man erkennen, wie groß sie war. Ihr Körper wand sich um den halben See. Doch ihre Augen sahen gar nicht aus, wie die Augen einer Schlange. Sie waren sanft und dunkel. „Ihr seid hier, um uns zu helfen, stimmt’s? Die Weisen in Coloranien rätseln, was es mit diesen seltsamen Vorgängen wohl auf sich haben mag.“

      Der Knonk war mittlerweile stehen geblieben und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

      „Ihr solltet vorsichtig sein“, fuhr die Schlange fort und bewegte dabei ihren Kopf auf die Kinder zu. „Wer auch immer hinter den dunklen Ereignissen stecken mag, er wird schnell ein Auge auf Euch werfen. Seid also auf der Hut. Und bedenkt, nicht alle Coloranier sind Euch Palidoniern gewogen. Einige haben sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Ich wünsche Euch alles Gute, Ihr Regenbogengeborene.“ Dann legte sie ihren Kopf wieder ab und begann in der Sonne zu dösen.

      Lara und Peter bedankten sich und folgten schließlich dem Knonk. Beide waren von den Worten der Schlange beunruhigt, ahnte aber noch nicht, wie recht sie behalten würde.

      „Was meinte die Schlange denn mit ‚Ihr Regenbogengeborene’?“ fragte Lara den Knonk.

      Dieser