Gina fand die Gegend ganz O.K., sie war daran gewöhnt, dass hier überall Frauen herumstanden, die auf Freier warteten.
Was die Wortwahl betraf, schien sich jeder Erwachsene anders auszudrücken. Eines Tages hatte ihr ihre Mutter genauer erklärt, um welches Gewerbe es sich handelte, dem die Frauen nachgingen. Ihr uralter Nachbar, Herr Koschinski, sprach von Dirnen und dem horizontalen Gewerbe, dem sie nachgingen. Gina hatte ihn allerdings im Verdacht, manchmal selbst das horizontale Gewerbe in Anspruch zu nehmen, denn sie hatte mal gesehen, wie er heimlichtuerisch mit einer Frau im Hausflur verschwand.
Gina raffte sich auf und ging mit Scotch die nass glänzende Straße hinunter. Der kleine Hund war wie elektrisiert von den Gerüchen der Straße und den Duftmarken, die seine tierischen Kollegen hinterlassen hatten. Eifrig zerrte er an der niedlichen, mit Glitzersteinchen verzierten Leine und zog Gina mit sich.
Wie angewurzelt stoppte er an einem Gebüsch, schnüffelte, wuselte herum und hob sein Beinchen. Ehe sich Gina versah, hatte Scotch sich hoffnungslos in seiner rosafarbenen Leine verheddert. So was schaffte er innerhalb von Sekunden, das war jetzt nicht das erste Mal.
Im dämmerigen Licht der Straßenbeleuchtung, welches von den Pfützen, die der kürzliche Regenschauer hinterlassen hatte, reflektiert wurde, blickte Gina genervt auf den schwärzlichen Busch, der von dem rosa Lederriemen hin und her geschaukelt und zusehends zerfleddert wurde. Sie seufzte und machte sich geduldig an die Arbeit, Scotch aus dem Busch zu befreien.
Plötzlich hörte sie ein sanftes Schnurren, ein Luftzug streifte ihre Wange. Sie blickte von ihrer Entwirrungsaktion auf und bemerkte, wie ein wunderschönes Auto in der Nähe am Straßenrand hielt. So ein tolles Auto hatte sie noch nie in Echt gesehen, höchstens in einem Film vielleicht. Heraus stieg ein wunderschöner, großer Mann, der aussah wie Ken, das männliche Pendant zu ihrer Barbiepuppe Cindy, mit der sie als sechsjährige so eifrig gespielt hatte. Dieser wunderschöne Mann näherte sich einer der Frauen, die auf einen Freier warteten. Es waren drei da an der Stelle und er suchte sich die Hübscheste aus. Gina fand, dass sie wie ein Model aussah, groß, schlank, mit ultra hohen Stiefeln, einem superkurzen Rock und langen, lockigen Haaren.
Gina fand die Frau wunderschön und wusste gleichzeitig, dass ihre Mutter ihr verbieten würde, so herumzulaufen.
Sie war so fasziniert von dem, war dort geschah, dass sie vergaß, die Leine zu entwirren. Sie war hinter dem regennassen Buschwerk verborgen und konnte die Szene, die sich etwas weiter die Straße hinunter abspielte gut beobachten, sie fühlte sich wie im Film.
Genau, ihre Mutter schaute manchmal einen uralten Liebesfilm namens “Pretty Woman" an und sie hatte früher mitgeschaut. Dies war der Held, der die Frau von ihrem Schicksal erlöste. Er sprach kurz mit der jungen Frau vom horizontalen Gewerbe, legte ihr dann mit einer zärtlichen, eleganten Bewegung den Arm um die Schultern und führte sie zu seinem luxuriösen Auto.
Ach ja, jetzt erinnerte sie sich auch an den Wagen. Den hatte sie auch vor einiger Zeit in einem Film gesehen, den ihre Mutter ganz toll gefunden hatte. Irgendwas mit zwei Freunden und einer war ganz doll gelähmt gewesen und wurde von seinem Freund durch die Gegend gefahren, in genau so einem Auto, wie sie dort sah, mit einem kleinen Dreizack vorne und hinten.
Der Prinz und die Prinzessin steckten noch kurz die Köpfe zusammen und sprachen miteinander, dann schaute der Prinz über die Schulter der Prinzessin in ihre Richtung und sein glitzernder Blick ließ ihr Herz zu Eis gefrieren, obwohl er sie doch nicht sehen konnte, sie war doch hinter dem Busch verborgen.
Ihre Traumblase löste sich urplötzlich auf und sie merkte, dass sie richtig doll fror. Sie zitterte richtiggehend. Sie sah noch, wie das Pärchen fast lautlos durch die Nacht davonbrauste. Scotch jaulte ungeduldig auf, zerrte an der verhedderten Leine und katapultierte Gina endgültig in die Gegenwart zurück. Sie konzentrierte sich jetzt richtig und hatte die Leine nach ein paar weiteren Minuten entwirrt, so dass Scotch erleichtert um sie herumtanzte.
Der Hund durfte noch ein paar Mal sein Beinchen heben, bevor sie sich auf den Rückweg in ihre warme, kuschelige Wohnung machten.
Kapitel 8
Am nächsten Morgen im Büro, Ella hatte sich gerade in eine umfangreiche Scheidungsakte vertieft, klingelte das Telefon und Ruth stellte Augusta zu ihr durch. Die alte Dame hörte sich sehr aufgeregt an.
„Ella", legte sie ohne Umschweife los, „hier geschehen wirklich seltsame Dinge. Ich habe gehört, dass im Schönheitsinstitut in der Nachbarschaft jemand gestorben sein soll, nach einer Schönheitsoperation".
„Ach Augusta, Schönheitsinstitut sagt heute kein Mensch mehr. Klinik für plastische Chirurgie nennen die sich heute. Wie bist du denn an die Information gekommen? Und wo, bitte schön, ist denn bei euch eine Klinik? Ich habe in der Gegend noch nie was Derartiges gesehen, mir ist nur der Yachtclub aufgefallen."
„Das Personal war irgendwie aufgescheucht, alle haben getuschelt und getratscht. Weißt du, in meinem Alter braucht man nicht mehr soviel Schlaf. Ich bin nachts oft wach und lausche den Geräuschen der Nacht. Ich habe noch mein altes Opernglas, erstklassige Qualität sage ich dir, also damit kann ich richtig gut gucken. Das Schönheitsinstitut ist gleich nebenan, man sieht es von der Straße aus nur nicht, weil es hinter Büschen und Bäumen verborgen ist.“
„Ja und was hast du gesehen?“, fragte Ella in leicht ungeduldigem Ton.
Sie mochte Augusta gern und hatte sich vorgenommen, immer Zeit für sie zu haben, aber sie war gerade sehr im Stress.
„Ich sehe immer wie vom Bestattungsinstitut Kupferberg die Leichen bei uns abgeholt werden. Die kommen immer nachts, man will die zukünftige Kundschaft ja nicht verschrecken. Aber diesmal sind sie zur Tiefgarage der Klinik gefahren".
„Augusta!", Ella merkte, wie ihr Geduldsfaden gerade sehr strapaziert wurde. „Das kann doch ganz normale Ursachen haben. Auch in einer Klinik sterben Leute. Aber ich kann ja mal bei der Staatsanwaltschaft nachfragen, ich habe da einen inoffiziellen Draht, vielleicht weiß der was."
Noch am gleichen Tag gelang es ihr Leon zu erreichen, der versprach Nachforschungen anzustellen.
Er meldete sich schon am nächsten Tag.
„Ella, es stimmt, es gab vor kurzem einen Todesfall in der Klinik. Die bemühen sich sehr um Geheimhaltung, wie du dir vorstellen kannst. Wenn das in die Zeitungen kommt, sind die finanziell ruiniert, aber alles scheint sauber zu sein. Die haben die Staatsanwaltschaft und die Polizei eingeschaltet. Angeblich handelt es sich um einen Selbstmord einer schwer depressiven Patientin. Sie soll sich mit dem Seidengürtel ihres Hausmantels an der Stange des Duschkopfs im Bad erdrosselt haben. Die Klinikleitung hat selbst den Notruf bei der Polizei getätigt und sie können von Glück reden, dass die Journalisten noch keinen Wind von der Sache bekommen haben.”
Ella sah sofort die Schlagzeile der Bildzeitung im Geiste vor sich: ´Geheimnisvoller Todesfall in der Schönheitsklinik! Selbstmord nach verpfuschter Nasen-Op?`
Leons Stimme drang wieder an ihr Ohr.
„Aber ich muss euch enttäuschen, es ist das wonach es aussieht. Keine anderweitigen Verdachtsmomente. Tut mir leid.”
Mit dieser Nachricht musste sich auch Augusta zufrieden geben.
Am späten Vormittag hatte Ella einen Gerichtstermin. Es handelte sich um eine sich ewig hinziehende Erbschaftsstreitigkeit und als der Termin endlich zu Ende war, meldete sich ihr Magen mit einer derartigen Hungerattacke, dass sie