Jene Tatjana Pawlowna spielte damals, als ich sie in Petersburg traf, eine eigentümliche Rolle. Ich hatte sie fast ganz vergessen und in keiner Weise erwartet, daß sie eine so bedeutsame Stellung innehätte. Sie war früher drei- oder viermal während meines Aufenthaltes in Moskau mit mir in Berührung gekommen und war Gott weiß woher in irgend jemandes Auftrag jedesmal erschienen, wenn ich irgendwo untergebracht werden mußte – bei meinem Eintritt in das schlechte Pensionat des Herrn Touchard, und dann zwei und ein halbes Jahr darauf bei meinem Übergang auf das Gymnasium und meiner Unterbringung bei dem unvergeßlichen Nikolai Semjonowitsch. Nach ihrer Ankunft beschäftigte sie sich jedesmal den ganzen Tag mit mir, revidierte meine Wäsche und meine Kleider, fuhr mit mir nach dem Kusnezkij Most und in die Stadt, kaufte mir alles Notwendige und brachte, kurz gesagt, meine gesamte Ausrüstung bis auf das letzte Schreibkästchen und Federmesserchen in Ordnung; dabei ranzte sie mich die ganze Zeit über an, schalt mich, machte mir Vorwürfe, examinierte mich und stellte mir andere Knaben aus ihrer Bekanntschaft und Verwandtschaft (für mich reine Phantasiegebilde), die alle angeblich viel besser waren als ich, als Muster hin; ja, sie kniff und puffte mich sogar gehörig, und das sogar mehrmals und so, daß es weh tat. Hatte sie mich ausgestattet und an meiner neuen Stelle untergebracht, so verschwand sie für einige Jahre spurlos. Und so war sie auch jetzt gleich nach meiner Ankunft erschienen, um mir wieder ein Unterkommen zu verschaffen. Sie war eine kleine, magere Person mit einem spitzen Vogelnäschen und scharfen Vogeläuglein. Gegenüber Wersilow war sie von einer sklavischen Dienstfertigkeit und verehrte ihn wie einen Papst, aber aus wirklicher Überzeugung. Bald aber bemerkte ich mit Erstaunen, daß sie geradezu überall und bei allen Menschen bekannt war und vor allem überall und von allen Menschen hochgeschätzt wurde. Der alte Fürst Sokolskij benahm sich gegen sie ungewöhnlich respektvoll; ebenso seine Familie; ebenso diese stolzen Kinder Wersilows; ebenso die Fanariotows, – und dabei lebte Tatjana Pawlowna von Näharbeit und vom Waschen feiner Spitzen und machte Handarbeiten für Läden. Ich und sie gerieten gleich beim ersten Wort miteinander in Streit, weil sie sich sogleich einfallen ließ, mich wie früher, vor sechs Jahren, anzuranzen; seitdem zankten wir uns täglich; aber das hinderte uns nicht, manchmal freundschaftliche Gespräche miteinander zu führen, und ich muß gestehen, daß sie mir gegen Ende des Monats zu gefallen anfing; ich glaube, wegen ihres selbständigen Charakters. Übrigens sagte ich ihr nichts davon.
Ich durchschaute sofort, daß man mir die Stelle bei diesem alten, kranken Herrn nur deshalb übertrug, damit ich für seine Unterhaltung sorgte, und daß darin mein ganzer Dienst bestehen würde. Natürlich erschien mir das entwürdigend, und ich wollte schon sogleich die nötigen Maßnahmen ergreifen; aber sehr bald rief dieser alte Sonderling eine unerwartete Empfindung in mir hervor, eine Art Mitleid, und am Ende des Monats fühlte ich mich in merkwürdiger Weise ihm zugetan, jedenfalls hatte ich die Absicht, ihm grob zu kommen, aufgegeben. Übrigens war er nicht mehr als sechzig Jahre alt. Es war mit ihm eine aufsehenerregende Geschichte passiert. Vor anderthalb Jahren hatte er plötzlich einen Anfall gehabt; er war irgendwo hingereist und unterwegs geisteskrank geworden, so daß daraus eine Art Skandal entstanden war, über den in Petersburg viel geredet wurde. Wie es in solchen Fällen Sitte ist, wurde er sofort ins Ausland geschafft, aber fünf Monate darauf erschien er plötzlich wieder, und zwar vollständig gesund, wenn er auch den Dienst quittierte. Wersilow versicherte allen Ernstes (und mit bemerkenswertem Eifer), daß eine Geistesstörung bei ihm überhaupt nicht vorgelegen habe, sondern nur ein nervöser Anfall. Dieser Eifer Wersilows fiel mir gleich auf. Übrigens will ich bemerken, daß auch ich beinah derselben Ansicht war. Der alte Fürst zeigte höchstens manchmal einen zu seinen Jahren nicht recht stimmenden Leichtsinn, was früher, wie man sagte, nicht der Fall gewesen war. Es hieß, er habe früher irgendwo und irgendwie gute Ratschläge gegeben und sich einmal bei einem ihm erteilten Auftrag besonders ausgezeichnet. Obwohl ich ihn schon einen ganzen Monat kannte, hätte ich nicht geglaubt, daß er als Ratgeber jemals von besonderer Stärke gewesen wäre. Man hatte an ihm bemerkt (obgleich ich es nicht bemerkt hatte), daß sich bei ihm nach jenem Anfall eine besondere Neigung herausgebildet hatte, möglichst bald zu heiraten, und glaubte, daß er in diesen anderthalb Jahren schon mehrmals habe zur Ausführung dieser Idee schreiten wollen. Davon hatte man in der Gesellschaft Kenntnis, und es fanden sich auch Interessenten. Aber da diese Neigung den Interessen gewisser Personen in der Umgebung des Fürsten sehr wenig entsprach, so wurde der alte Mann von allen Seiten argwöhnisch bewacht. Seine eigene Familie war nur klein; er war schon seit zwanzig Jahren Witwer und hatte nur eine einzige Tochter, jene verwitwete Generalin, die jetzt täglich aus Moskau erwartet wurde, eine junge Person, vor deren energischem Charakter er unzweifelhaft Angst hatte. Aber er hatte eine Unmenge verschiedener entfernter Verwandter, namentlich von Seiten seiner verstorbenen Frau, die sämtlich beinahe Bettler waren, und außerdem eine Masse von Pflegesöhnen und Pflegetöchtern, die alle viele Wohltaten von ihm empfangen hatten, nun auf einen kleinen Anteil in seinem Testament hofften und daher alle die Generalin bei der Beaufsichtigung des alten Mannes unterstützten. Er hatte überdies von Jugend auf eine Sonderbarkeit an sich, ich weiß nur nicht, ob ich sie lächerlich finden soll oder nicht: arme Mädchen zu verheiraten. Er gab sich schon seit fünfundzwanzig Jahren damit ab, solche Mädchen zu verheiraten, teils entfernte Verwandte, teils Stieftöchter irgendwelcher Vettern seiner Frau, teils Patenkinder; sogar die Tochter seines Portiers hatte er verheiratet. Er nahm sie zuerst, wenn sie noch ganz klein waren, zu sich ins Haus, zog sie auf, hielt ihnen Gouvernanten und Französinnen, ließ sie dann die besten Lehranstalten besuchen und verheiratete sie schließlich, wobei er ihnen eine Mitgift gab. Dieser ganze Schwarm umdrängte ihn fortwährend. Die Pflegetöchter bekamen natürlich, nachdem sie verheiratet waren, wieder Töchter, und auch alle diese strebten danach, ebenfalls Pflegetöchter zu werden; überall mußte er Pate stehen; zu seinem Namenstag erschien diese ganze Gesellschaft, um zu gratulieren, und das alles machte ihm das größte Vergnügen.
Als ich meine Stelle bei ihm antrat, merkte ich sofort – und es war unmöglich, es nicht zu merken –, daß sich in dem Kopf des alten Mannes eine peinliche Vorstellung festgesetzt hatte: er glaubte, daß alle Menschen in der besseren Gesellschaft ihn sonderbar ansähen und sich gegen ihn anders benähmen als früher, wo er noch gesund gewesen war; diese Vorstellung verließ ihn selbst in der heitersten Gesellschaft nicht. Der alte Mann wurde argwöhnisch und glaubte in aller Augen eine gewisse Meinung zu lesen. Der Gedanke, daß man ihn immer noch für geisteskrank halte, quälte ihn offenbar sehr; selbst mich sah er manchmal mißtrauisch an. Und wenn er erfahren hätte, daß jemand dieses Gerücht über ihn weiterverbreitete oder für begründet erklärte, so wäre, glaube ich, dieser so gutmütige Mensch der lebenslängliche Feind des Betreffenden geworden. Gerade diesen Umstand bitte ich zu beachten. Ich füge hinzu, daß mich dies gleich vom ersten Tag an davon abhielt, ihm gegenüber grob zu werden; ich freute mich sogar, wenn es mir manchmal gelang, ihn zu erheitern oder zu zerstreuen. Ich glaube nicht, daß dieses Bekenntnis einen Schatten auf meine Ehre werfen kann.
Der größte Teil seines Geldes steckte in Unternehmungen. Er war, und zwar erst nach seiner Krankheit, Teilhaber bei einer großen, übrigens höchst soliden Aktiengesellschaft geworden. Und obgleich die eigentliche Geschäftsführung in anderen Händen lag, so interessierte