Der Jüngling. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750208926
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lange vor der Französischen Revolution erschien in Paris ein gewisser Law und stellte ein im Prinzip geniales Projekt auf (das aber nachher bei der Verwirklichung vollständig scheiterte). Ganz Paris war in Aufregung; Laws Aktien wurden reißend gekauft, der Andrang war gewaltig. In das Haus, in dem die Subskription eröffnet war, strömte wie aus einem Sack das Geld aus ganz Paris zusammen; aber auch das Haus reichte schließlich nicht aus: das Publikum stand in dichtem Haufen auf der Straße, Angehörige aller Berufsarten, aller Stände, aller Lebensalter, Bourgeois, Adlige, deren Kinder, Gräfinnen, Marquisen, Prostituierte, alles keilte sich zu einer wütenden, halbverrückten Masse zusammen, als wären sie von einem tollen Hunde gebissen. Rang und Stand, Vorurteile der Geburt und des Stolzes, sogar Ehre und guter Name, alles wurde in den Schmutz getreten; alles wurde geopfert (sogar von den Frauen), um nur ein paar Aktien zu bekommen. Die Subskription wurde schließlich auf die Straße verlegt, aber dort fehlte es an einem Tisch, auf dem man hätte schreiben können. Da machte man einem Buckligen den Vorschlag, seinen Buckel für eine Weile als Tisch zur Verfügung zu stellen, damit so die Subskription auf die Aktien stattfinden könne. Der Bucklige willigte ein – man kann sich vorstellen, für welchen Preis! Nicht lange darauf (es hatte nur sehr kurze Zeit gedauert) waren alle bankrott, das ganze Unternehmen war geplatzt, die ganze Idee zum Teufel, und die Aktien hatten jeden Wert verloren. Wer hatte dabei gewonnen? Nur der Bucklige, eben weil er keine Aktien genommen hatte, sondern bare Louisdors. Nun, dieser Bucklige bin ich! Ich habe Willenskraft genug gehabt, um nur von Brot zu leben und mir kopekenweise zweiundsiebzig Rubel zusammenzusparen; da wird sie wohl auch ausreichen, um mitten in dem fieberhaften Taumel, der alle ergriffen hat, die Besonnenheit zu bewahren und den sicheren Gewinn dem großen vorzuziehen. Kleinlich bin ich nur in kleinen Dingen, in großen nicht. Zur Selbstbeherrschung im Kleinen hat meine Charakterfestigkeit oft nicht ausgereicht, auch nicht nach dem Entstehen meiner »Idee«, aber wo es sich um Großes handelt, reicht sie immer aus. Wenn mir meine Mutter morgens, bevor ich in den Dienst zum Fürsten ging, kalt gewordenen Kaffee vorsetzte, wurde ich ärgerlich und sagte ihr Grobheiten, und dabei war ich doch derselbe Mensch, der einen ganzen Monat lang nur von Brot und Wasser gelebt hatte.

      Kurz, es wäre unnatürlich, wenn ich nicht Geld verdienen sollte, wenn ich nicht lernen sollte, wie man welches verdient. Und ebenso unnatürlich wäre es, wenn jemand bei ununterbrochenem, gleichmäßigem Sparen, bei ununterbrochener Achtsamkeit und nüchterner Denkweise, bei Enthaltsamkeit und kluger Wirtschaft, bei stets wachsender Energie, ich wiederhole es, es wäre unnatürlich, wenn er da nicht Millionär werden sollte. Wodurch sonst hat sich jener Bettler sein Geld erworben als durch seine fanatische Charakterfestigkeit und Energie? Bin ich denn schlechter als der Bettler? Und schließlich, mag ich auch nichts erreichen, mag auch meine Berechnung falsch sein, mag ich auch scheitern und zugrunde gehen – ganz egal, ich unternehme es. Ich unternehme es, weil ich es will. Das hatte ich mir schon in Moskau gesagt.

      Man wird mir sagen, daß hier gar keine »Idee« und absolut nichts Neues vorliege. Aber ich erwidere, und zwar jetzt zum letztenmal, daß hier eine unendlich große Idee und unendlich viel Neues vorliegt.

      Oh, ich habe es ja vorhergeahnt, wie trivial alle Einwendungen sein werden, und wie trivial auch das erscheinen wird, was ich selbst zur Erläuterung meiner »Idee« sage.

      Nun, was habe ich ausgesprochen? Noch nicht den hundertsten Teil dessen, was ich eigentlich zu sagen hätte; ich fühle, daß es kleinlich, plump, oberflächlich herausgekommen ist und sogar noch jugendlicher, als es mein Lebensalter an sich schon mit sich bringt.

      Es bleiben noch die Antworten auf die Fragen »Warum?« und »Wozu?« und »ist es eine sittlich gute Handlungsweise?« usw. usw.; auf diese Fragen hatte ich zu antworten versprochen.

      Es tut mir leid, daß ich den Leser gleich von vornherein enttäuschen muß, es tut mir leid und freut mich zugleich. Man wisse also, daß in meiner »Idee« absolut nichts von einem Gefühl der »Rache« liegt, nichts Byronsches, keine Flüche, keine Klagen wegen Vaterlosigkeit, keine Tränen über illegitime Geburt, nichts Derartiges, nichts. Kurz, sollten meine Aufzeichnungen einer romantischen Dame in die Hände fallen, so wird sie sogleich ein Gesicht ziehen. Der ganze Zweck meiner »Idee« ist Absonderung von den Menschen.

      »Aber Absonderung kann man erreichen, auch ohne damit zu renommieren, daß man ein Rothschild werden will. Inwiefern muß man dazu ein Rothschild sein?«

      »Insofern, als ich außer der Absonderung auch Macht brauche.«

      Ich schicke voraus: der Leser wird über die Offenherzigkeit meiner Beichte vielleicht einen Schreck bekommen und sich in seiner Harmlosigkeit fragen: ›Wie ist es nur möglich, daß der Verfasser dabei nicht errötet?!‹ Darauf antworte ich: ich schreibe nicht, um gedruckt zu werden; einen Leser werde ich wahrscheinlich erst nach zehn Jahren haben, wenn alles schon dermaßen klargeworden, in die Vergangenheit zurückgewichen und bewiesen sein wird, daß zum Erröten kein Anlaß mehr bestehen wird. Wenn ich mich daher in diesen meinen Aufzeichnungen manchmal an den Leser wende, so ist das lediglich eine Form. Mein Leser ist ein Geschöpf meiner Phantasie.

      Nein, nicht meine illegitime Geburt, mit der ich bei Touchard so viel gehänselt wurde, nicht die traurigen Jahre meiner Kindheit, nicht die Rachsucht und nicht das Recht zu protestieren haben meine »Idee« hervorgerufen; schuld an allem ist einzig und allein mein Charakter. Von meinem zwölften Jahre an, glaube ich, das heißt fast von der Zeit an, wo das richtige Bewußtsein erwacht, konnte ich die Menschen nicht mehr leiden. Nicht eigentlich, daß ich sie nicht leiden konnte, aber der Verkehr mit ihnen wurde mir lästig. Es war mir in Augenblicken reiner Empfindung manchmal selbst überaus schmerzlich, daß ich nicht einmal denen gegenüber, die mir nahestehen, alles aussprechen kann (das heißt, ich könnte es wohl, aber ich will es nicht; ich halte mich aus einem mir selbst unklaren Grund zurück), und daß ich so mißtrauisch, mürrisch und schweigsam bin. Und ferner habe ich schon lange, fast seit meiner Kindheit, bei mir noch einen anderen Charakterzug bemerkt: daß ich zu häufig Beschuldigungen aufbringe, zu sehr geneigt bin, andere Leute zu beschuldigen; aber auf die Betätigung dieser Neigung folgte sehr oft unverzüglich ein anderer, mir besonders peinlicher Gedanke: ›Tragen vielleicht nicht sie die Schuld, sondern ich selbst?‹ Und wie oft beschuldigte ich mich ohne Grund! Um nicht solche Fragen beantworten zu müssen, suchte ich natürlich die Einsamkeit. Überdies habe ich, sosehr ich mich auch bemühte (und ich habe mich wirklich bemüht), an der Gesellschaft der Menschen nichts finden können; wenigstens erwies sich, daß alle meine Altersgenossen, alle meine Kameraden in ihrer Denkweise unter mir standen; ich besinne mich auf keine einzige Ausnahme.

      Ja, ich bin finster und verstecke mich fortwährend. Ich hege oft den Wunsch, aus der menschlichen Gesellschaft auszuscheiden. Ich werde vielleicht den Menschen Gutes tun, aber oft sehe ich zu einer solchen Handlungsweise nicht den geringsten Anlaß. Auch sind die Menschen keineswegs so nett, daß man sich ihretwegen Sorgen machen sollte. Warum treten sie nicht geradeheraus und offen an einen heran, und warum muß ich unbedingt als erster mich an sie heranmachen? Das ist eine Frage, die ich mir oft vorgelegt habe. Ich bin ein dankbares Wesen und habe das schon durch Hunderte von Dummheiten bewiesen. Ich würde Offenheit augenblicklich mit Offenheit erwidern und den Betreffenden sofort liebgewinnen. Und das habe ich auch schon oft getan; aber alle haben mich sogleich hinters Licht geführt und sich mit Hohn und Spott vor mir versteckt. Der offenherzigste von allen war noch Lambert, der mich in meiner Kindheit viel prügelte; aber auch der war nur ein offenherziger Schuft und Übeltäter, und seine Offenherzigkeit war nur eine Folge seiner Dummheit. Das waren meine Gedanken, als ich nach Petersburg kam.

      Als ich damals aus Dergatschews Wohnung heraustrat (weiß der Himmel, was mich zu ihm hingezogen hatte), schloß ich mich an Wassin an und sprach ihm in einem Anfall von Begeisterung meine Bewunderung aus. Und was geschah? Noch am selben Abend fühlte ich, daß meine Zuneigung zu ihm sehr viel geringer geworden war. Warum? Ebendarum, weil ich ihm meine Bewunderung ausgesprochen und mich dadurch vor ihm erniedrigt hatte. Es könnte scheinen, daß gerade das Gegenteil zu erwarten sei: ein Mensch, der so gerecht und offenherzig ist, daß er einem anderen sogar zu seinem eigenen Schaden die gebührende Anerkennung zollt, ein solcher Mensch steht doch, was seinen eigenen Wert anlangt, höher als jeder andere. Aber – ich sah das ein und mochte Wassin doch weniger gern, sogar sehr viel weniger; ich wähle absichtlich ein Beispiel, das dem Leser bereits bekannt ist. Sogar an Krafft dachte ich mit einem unangenehmen,