Der Jüngling. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750208926
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um und sah den Revolver starr an.

      »Nein, ich tue es nur so aus Gewohnheit.«

      »Wenn ich einen Revolver hätte, so würde ich ihn irgendwo verwahren und einschließen. Wissen Sie, so ein Ding hat wahrhaftig etwas Verführerisches! Ich glaube zwar nicht gerade an eine Selbstmordepidemie, aber wenn man so ein Ding immer vor Augen, hat – wirklich, es gibt Augenblicke, wo es einen verführen könnte.«

      »Lassen Sie dieses Thema!« sagte er und stand plötzlich vom Stuhl auf.

      »Ich rede dabei nicht von mir«, fügte ich, ebenfalls aufstehend, hinzu, »ich werde nie davon Gebrauch machen. Mir können Sie ein Leben von dreifacher Länge geben – es wird mir immer noch zu wenig sein.«

      »Leben Sie recht lange!« entfuhr es ihm anscheinend unwillkürlich.

      Er lächelte zerstreut und ging sonderbarerweise geradeswegs ins Vorzimmer, als wollte er mich hinausbegleiten, natürlich ohne zu bemerken, was er tat.

      »Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen bei allem, was Sie vorhaben, Krafft«, sagte ich, als ich bereits auf die Treppe hinaustrat.

      »Wollen's hoffen!« erwiderte er in festem Ton.

      »Auf Wiedersehen!«

      »Wollen auch das hoffen!«

      Ich erinnere mich an den letzten Blick, den er auf mich richtete.

      Also das war der Mensch, um den mein Herz so viele Jahre lang geklopft hatte? Und was hatte ich denn von Krafft erwartet? Was für neue Mitteilungen hatte ich mir von ihm versprochen?

      Als ich von Krafft herauskam, verspürte ich starken Hunger; es war schon gegen Abend, und ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Ich ging, gleich dort auf der Petersburger Seite, auf dem Großen Prospekt in ein kleines Restaurant, um dort zwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Kopeken auszugeben; eine größere Ausgabe hätte ich mir damals unter keinen Umständen gestattet. Ich ließ mir eine Suppe geben, und nachdem ich sie verzehrt hatte, setzte ich mich, wie ich mich erinnere, an ein Fenster und sah hinaus. Im Zimmer waren viele Menschen; es roch nach angebranntem Fett, Restaurationsservietten und Tabak. Es war widerlich. Über meinem Kopf pochte eine stimmlose Nachtigall trübsinnig und melancholisch mit dem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs. In dem anstoßenden Billardzimmer wurde gelärmt; ich aber saß da und überließ mich meinen Gedanken. Der Sonnenuntergang (warum hatte sich Krafft nur darüber gewundert, daß ich den Sonnenuntergang nicht gern hatte?) erweckte in mir neue, unerwartete Empfindungen, die ganz und gar nicht zu dem Ort paßten. Mir schwebte immer der stille Blick meiner Mutter vor, ihre lieben Augen, die mich nun schon einen ganzen Monat lang so schüchtern ansahen. In der letzten Zeit war ich zu Hause recht grob gewesen, namentlich ihr gegenüber; eigentlich wollte ich zu Wersilow grob sein, aber da ich mich an ihn nicht herantraute, so peinigte ich nach meiner schlechten Gewohnheit meine Mutter. Ich hatte sie sogar ganz verängstigt; oft sah sie mich, wenn Andrej Petrowitsch eintrat, mit einem so flehenden Blick an, weil sie einen heftigen Ausbruch meinerseits befürchtete ... Sehr sonderbar war es, daß ich hier, im Restaurant, zum erstenmal darüber nachdachte, daß Wersilow zu mir du sagte, sie aber Sie. Gewundert hatte ich mich darüber auch schon früher, und zwar nicht in einem für sie günstigen Sinne; jetzt aber stellte ich darüber besondere Überlegungen an – und sehr sonderbare Gedanken zogen einer nach dem andern durch meinen Kopf. Ich blieb lange auf meinem Platz sitzen, bis zum Einbruch völliger Dunkelheit. Ich dachte auch an meine Schwester ...

      Es war für mich ein entscheidender Augenblick. Ich mußte unter allen Umständen einen Entschluß fassen! War ich denn dazu wirklich unfähig? Was war denn so Schweres daran, alle Beziehungen abzubrechen, wenn diese Menschen zudem selbst nichts von mir wissen wollten? Meine Mutter und meine Schwester? Aber diese beiden wollte ich in keinem Fall verlassen – welche Wendung die Sache auch nehmen mochte.

      Es ist wahr: das Auftreten dieses Menschen in meinem Leben, als ich noch in der ersten Kindheit war, hatte zwar nur einen Augenblick gedauert, mir aber doch jenen bedeutsamen Stoß gegeben, von dem mein Bewußtsein begann. Wäre ich damals nicht mit ihm zusammengetroffen, so würden mein Verstand, meine Denkart, mein Schicksal sich gewiß anders gestaltet haben, sogar trotz meines mir vom Schicksal vorherbestimmten Charakters, dem ich allerdings nicht hätte entgehen können.

      Und nun stellte es sich heraus, daß dieser Mensch nur ein Phantasiegebilde von mir war, ein Phantasiegebilde aus meinen Kinderjahren. Ich selbst hatte ihn mir so ausgedacht, in Wirklichkeit aber war er ein ganz anderer und stand tief, tief unter dem Gebilde meiner Phantasie. Zu einem sittlich reinen Menschen war ich hergereist, nicht zu diesem. Und warum hatte ich ihn ein für allemal liebgewonnen in jenem kurzen Augenblick, als ich, noch ein kleines Kind, ihn damals erblickte? Dieses »ein für allemal« mußte nun verschwinden. Ich werde später einmal, wenn sich dazu Platz findet, diese unsere erste Begegnung erzählen: es war ein ganz unbedeutender Vorgang, auf den sich keine Folgerung bauen ließ. Aber ich baute eine ganze Pyramide von Folgerungen darauf auf. Ich begann diese Pyramide schon unter der Decke meines Kinderbettchens, wenn ich vor dem Einschlafen weinte und meinen Gedanken nachhing; worüber ich weinte und worüber ich nachdachte, das weiß ich selbst nicht. Darüber, daß ich so verlassen war? Darüber, daß ich gequält wurde? Aber gequält wurde ich nur wenig, nur zwei Jahre lang in der Touchardschen Pension, in die er mich brachte, worauf er für immer wegfuhr. Nachher hat mich niemand mehr gequält; vielmehr habe sogar ich selbst stolz auf meine Mitschüler hinabgeblickt. Und ich kann auch jene sich selbst bejammernden vaterlosen Kinder nicht ausstehen! Ich kenne nichts Ekelhafteres, als wenn diese illegitimen vaterlosen Kinder, alle diese Ausgestoßenen und überhaupt diese ganze Bagage, mit der ich nicht das geringste Mitleid habe, sich auf einmal feierlich vor dem Publikum erheben und kläglich, aber erbaulich losheulen: »Seht, wie man an uns gehandelt hat!« Am liebsten würde ich diese vaterlosen Kinder durchhauen. Niemand von dieser widerwärtigen Gesellschaft hat Verständnis dafür, daß es für ihn sehr viel anständiger ist, zu schweigen und nicht zu heulen und sich nicht zu Klagen herabzuwürdigen. Wenn du dich aber dazu herabwürdigst, du Sohn der Liebe, dann hast du dein Los verdient. So denke ich darüber!

      Aber nicht das war lächerlich, daß ich früher »unter meinem Bettdeckchen« phantastischen Träumereien nachgehangen hatte, sondern daß ich nun gerade um seinetwillen hergereist war, wieder um dieses erdachten Menschen willen, und meine Hauptziele dabei fast vergessen hatte. Ich war hergefahren, um ihm im Kampf gegen die Verleumdung, bei der Überwindung seiner Feinde zu helfen. Jenes Schriftstück, von dem Krafft gesprochen hatte, jener Brief, den diese Frau an Andronikow geschrieben hatte und um den sie jetzt solche Angst ausstand, jener Brief, der ihr Lebensglück zertrümmern und sie an den Bettelstab bringen konnte und von dem sie annahm, daß er sich in Wersilows Händen befinde, – dieser Brief befand sich nicht in Wersilows Händen, sondern war in meiner Seitentasche eingenäht! Ich hatte ihn selbst eingenäht, und bisher wußte kein Mensch auf der ganzen Welt etwas davon. Daß Marja Iwanowna, die das Schriftstück »in Verwahrung« gehabt hatte, bei ihrer Vorliebe für alles Romanhafte für nötig befunden hatte, es mir zu übergeben und keinem andern, das hatte von ihrer Ansicht und ihrem freien Willen abgehangen, und ich bin nicht verpflichtet, es zu erklären; vielleicht erzähle ich die Geschichte einmal bei Gelegenheit; aber nachdem ich in so unerwarteter Weise eine Waffe in die Hand bekommen hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich in Petersburg zu zeigen. Allerdings beabsichtigte ich diesem Menschen nur insgeheim zu helfen, ohne selbst hervorzutreten und ohne mich zu ereifern und ohne von ihm Belobigungen oder Umarmungen zu erwarten. Und niemals, niemals wollte ich mich dazu herabwürdigen, ihm irgendeinen Vorwurf zu machen! Was konnte er denn auch dafür, daß ich mich in ihn verliebt und mir aus ihm ein phantastisches Ideal zurechtgemacht hatte? Und vielleicht liebte ich ihn nicht einmal. Sein origineller Geist, sein interessanter Charakter, seine Intrigen und Abenteuer und der Umstand, daß meine Mutter bei ihm wohnte, all das hätte mich, wie ich glaubte, nicht mehr halten können; es genügte schon das eine, daß meine phantastische Puppe zerbrochen war und ich ihn vielleicht nicht mehr lieben konnte. Was war es denn also, was mich hielt und woran ich mich festklammerte? Das war die Frage. Und als Resultat ergab sich, daß nur ich der Dumme war und sonst niemand.

      Aber wie ich von anderen Ehrlichkeit verlange, so werde ich auch selbst ehrlich sein: ich muß bekennen, daß das in meiner