Lowlife. Julian Wendel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julian Wendel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750211179
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kurz geschnitten und in einem Ton gefärbt, den man am besten als Altweiberviolett bezeichnen konnte… Die Praxis befand sich in dem selbstverständlich originalgetreu restaurierten Fachwerk eines ehemaligen Bauernhauses, im Kern des von der Vorstadt umwachsenen, langsam unkenntlich werdenden Dorfes. Das Wartezimmer war vollgestopft mit sebstbemaltem Holzspielzeug und allerlei wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Magazinen und bildender Lektüre in den hölzernen Bücherregalen… Geschichte, Kultur, Soziologie, Kinderbücher mit Ökomärchencharakter… An den Wänden hingen vergrößerte Urlaubsfotos von weiß der Teufel wo, die die Natur in all ihrer unberührten Pracht zeigten und sichtbar machen sollten, wie gut man doch als Ärztin leben konnte. Ich erinnere mich, wie es dazu kam, dass ich zum ersten Mal in die Praxis geschleppt wurde.

      Ich war etwa sieben oder acht und gerade aus dem Schulbus ausgestiegen und befand mich auf dem Weg nach Hause. Die Praxis lag gegenüber der Bushaltestelle, auf der anderen Straßenseite. Ein paar Schritte hatte ich vom Heimweg hinter mich gebracht, als mich entsetzliche Magenkrämpfe überkamen und ich in einer Seitenstraße zusammenbrach. Etwa fünf Minuten vergingen auf dem Asphalt liegend, während ich mich in Schmerzen wand. Eine ältere Dame kam vorbei, nahm sich meiner an und schleppte mich in die Praxis… Unter einem Arm mich, unter dem anderen ihre Einkaufstasche… Die Hippieärztin führte Untersuchungen durch und zitierte meine Großmutter herbei, damals noch fit und quicklebendig… Und dann?… Lücken der Kindheit… Weiß kaum noch was, außer dass ihre Heilmethoden tatsächlich bei mir anschlugen… Nach Abschluss der Behandlung bekam ich nie wieder diese spontanen Magenkrämpfe, die mich über zwei Jahre lang verfolgt hatten und bei denen andere Ärzte den ersten Verdacht auf Blinddarm gelegt, nach den Untersuchungen aber konturlose Diagnosen abgegeben und ratlos Medikamente verschrieben hatten.

      Von da an ging ich, wenn sich der Umstand ergab, dass ich ärztliche Hilfe benötigte, nur noch in diese Praxis… Es war mir wirklich fremd und unbehaglich, sogar noch diesem eigentlich warmen, erdig und freundlich gestaltetem Wartezimmer. Arztpraxen sind meist kalt und haben diese klinische Distanziertheit. Man muss ständig warten, wird kurz und kratzig aufgerufen, lässt trockene Formalitäten über sich ergehen und setzt sich wieder hin, um noch länger warten zu dürfen… Bis man endlich das bekommt, weswegen man sich überhaupt in die Praxis gewagt hat, ist man schon völlig fickrig und zerknautscht, der Hintern ganz platt vom vielen herumsitzen und übergeschnappt, wegen den vielen keuchenden Kranken und hypochondrischen Privatpatienten um einen herum, die anlässlich jedes quer sitzenden Furzes zum Doktor rennen… Während man selbst sich nur in allergrößter Not schon halbtot in die Praxis schleppt, eher noch aus Demut und mit größtem Pflichtbewusstsein an der Arbeit erscheint, weil einem schließlich das Wohl der Firma so sehr am Herzen liegt, dass man auf eine saubere Genesung verzichtet… Lieber Tabletten fressen… Wird schon laufen… Da wird einem ganz Schwindlig vor Elend und Untertanengeist.

      Die Untersuchung, die meine Gesundheitliche Tauglichkeit zur Ausübung der erwählten Pflicht bescheinigen sollte, bestand aus wiegen, messen, atmen, husten, vielerlei Befragungen bezüglich meiner körperlichen Stärken und Schwächen und einer Urinprobe, welche mir am meisten Sorgen bereitete… Etwas verschüchtert fragte ich, auf was denn genau mein Urin untersucht werden würde… Und dachte dabei an das Marihuana, das ich bisher verqualmt hatte… Fast schon spöttisch und wissend prüfendem Blick schaute mich die Ärztin an und redete mir freundlich schmunzelnd zu, ich solle mir keine Sorgen darum machen, sie wolle nicht herausfinden ob ich gekifft hätte.

      Erleichterung für mich, alles andere war mir sowieso egal. Der Test ergab, dass ich ohne weiteres für den Beruf geeignet wäre und man gab mir die Formulare zum Unterschreiben und Einreichen beim Arbeitgeber mit… Halleluja!

      Nachdem ich meine Papiere weitergegeben hatte, arbeitete ich noch für ein paar Wochen. Bald darauf war die Berufsvorbereitung vorbei, das schändliche Praktikantendreieck wurde von meiner Arbeitskleidung entfernt, ich bekam endlich meinen Namen auf den Latz genäht und besiegelte mein Schicksal, indem ich meine ungeübte Unterschrift auf den Ausbildungsvertrag zeichnete. Mir bleib sogar noch etwas Urlaub übrig, der mir noch restlich von meiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ausstand. Es sollte der letzte Urlaub werden, für den ich nicht mehr erbittert kämpfen musste.

      Es lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, was ich mit der Zeit angestellt habe. Ähnlich meiner flüchtigen Gedanken, der kurzweiligen Eindrücke, ähnlich meiner Launen und aus der Leistengegend aufwallenden Gelüste, sprengten die Wochen im Veitstanz an mir vorbei… Wie ging das hinterher noch weiter?… Ich habs gleich.

      Die folgenden Arbeitswochen waren schrecklich öde, nicht mehr unterbrochen von den zwei Urlaubstagen, die ich zuvor bei meinem Bildungsträger und in der Schule verbracht hatte… Schnell hatte der baumelnde Tagesverlauf meines Urlaubs zur Gewöhnung geführt… Lange dauerte es, bis ich mich wieder an das frühe Aufstehen gewöhnte… Oh die süße Trägheit… Montagmorgens fiel es mir so schwer wie noch nie zuvor, meinen müden Kadaver endlich mal aus dem Bett zu werfen. Es war lächerlich! Ich wartete bis zur letzten Minute mit dem Aufstehen… So als könne mein Bett mich vor dem kalten grauen Alltag bewahren… Wälzte mich im Bett herum, wobei ich argwöhnisch schielend die Uhr im Blick behielt und dabei zusah, wie die letzten Minuten gnadenlos und unaufhaltsam abliefen… Kurz wieder eingeschlafen… Scheiße! Panik! Schon so spät?!… Mit flauen Gefühl im Magen warf ich die Decke beiseite und musste das Frühstück entbehren… Teufel auch!… Dermaßen schwer war mir das noch nie gefallen.

      Man muss jedoch sagen, immerhin hatte ich Glück, was meinen Arbeitsweg anging… Zehn Minuten Fußmarsch von zu Hause aus und ich war dort. Nicht anders als mein Arbeitskollege Christoph, der in der Gegend wohnte, jedoch jeden Morgen die Strecke von gerade mal fünfhundert Meter mit seinem geliebten zweier Golf zurücklegte… Warum nicht zeigen, dass es einem gut ging?

      Um kurz vor acht kam ich die Straße entlang und sah die Kollegen an mir vorbeifahren und auf den Hof abbiegen. Aus einiger Entfernung versuchte ich die Lage auszumachen, beobachtete die Aktivitäten auf dem Hof, erspähte aus der Ferne, ob das Licht an war (im Winter) oder, ob die Tore offen standen (im Sommer) und hoffte somit eine innere Vorbereitung auf das, was da kommen würde, erzielen zu können… Meine Strategie funktionierte mehr schlecht als recht… Die Füße trugen mich immer näher und obwohl ich eigentlich hätte umdrehen wollen, überquerte ich letztendlich die Straße, ging schnell zum Umkleideraum Schrägstrich Lager Schrägstrich Müllhalde und legte die muffige Kluft an den sauberen Leib. So begann jeder verdammte Wochentag.

      Im ersten Lehrjahr dachte ich es könne nicht viel dröger werden. Ich wusch Autos, gerne auch bei ein paar Grad unter Null, machte jeden Winkel der Werkstatt eine Million Mal sauber, mähte den Rasen, zupfte Unkraut aus, säuberte die Toilette, sortierte unzählige versiffte und verrostete Schrauben und Muttern, half bei allen Projekten, die meinen Vorgesetzten in den Sinn kamen, aber rein gar nichts mit meinem Beruf zu tun hatten, räumte Lager ein und aus und wusch Regale sauber… Gelegentlich wurde ich im Affekt angekläfft, wenn ich eine Lakaienarbeit fertig hatte und die Dreistigkeit besaß, das garstige Fuhrwerken des Wiesels zu unterbrechen, indem ich eine neue Beschäftigung erbat… Wie im Praktikum… Ich war tatsächlich überrascht.

      Sobald es sich aber dünne machte, sah ich meinen Kollegen bei den Reparaturen zu, war immer um Hilfeleistung bemüht und stellte Fragen wo ich nur konnte, ließ mir von ihnen ihr Handwerk erklären, prägte mir ihre Handgriffe und Fachausdrücke ein und träumte davon irgendwann, vielleicht im dritten Lehrjahr, mal selbst Hand an einen Motor oder ein Getriebe legen zu dürfen… Dabei gingen scheinbar die Stunden am schnellsten vorüber.

      Langsam, aber sicher entwickelte ich ein Gespür für aufkommendes Unheil, konnte mit einiger Zuverlässigkeit wittern, dass sich Ärger anbahnte. Die Ausgangssituationen waren nahezu immer die gleichen. Gab es Schwierigkeiten, egal welcher Art, bei einer Reparatur, so stieß unser aller Freund und Wohltäter das Wiesel hinzu. Nicht etwa, um uns gutmütig zu helfen, als vielmehr uns bei der Arbeit zu behindern… Uns die Nerven mit einem Winkelschleifer zu zerreiben. Mit seiner Unfähigkeit, wie ein gesunder und besonnener Mensch zu denken und zu handeln, machte er uns nicht selten ganze Arbeitswochen zur Hölle. Seltsamerweise gingen die Reparaturen der Kollegen mit seiner Hilfe öfter in die Hose, als ohne sein Beisein… Man konnte sich nicht sicher darüber sein, ob