Diakonisch engagierte evangelische Pastoren (z.B. Christoph Blumhardt) bezogen den Begriff zweihundert Jahre später auf den Dienst am Menschen. War die erste Bekehrung die Hinwendung zu Jesus Christus, so ist die zweite die Hinwendung zu den Menschen und zur Welt.
Auch wenn die Sprache altertümlich klingt, finde ich den Ausdruck gut. Christsein ohne diese Hinwendung zum Menschen bleibt fragwürdig. Im Leben der Jünger, angefangen mit jenen damals am See Genezareth bis hin zu uns heute, wird der Glaube nur relevant, wenn er sich auswirkt. Die missionarische Dimension werden wir noch bedenken.
Sätze heiligen Rechtes
»Aber das ist doch erst der zweite Schritt!«, höre ich manch lieben Mitchristen nun sagen. »Wichtig und entscheidend ist doch die erste Bekehrung, die zu Jesus! Was dann kommt, ist eine andere Sache.« So denke auch ich im Prinzip. Zuerst werde ich Christ, dann lebe ich als Christ. Zunächst komme ich zum Glauben, dann praktiziere ich ihn. Wir haben es auf diesem Hintergrund hingekriegt, Verkündigung und Diakonie zu trennen. Die einen reden, die anderen handeln. Die einen rufen zur Umkehr, die anderen helfen den Menschen.
Welch ein Irrweg! Mag eine Aufgabenteilung häufig auch praktikabler und einfacher sein, mag sie oft auch der Situation entsprechen, mag es auch Sinn machen die Dogmatik von der Ethik als theologische Disziplinen zu trennen – ein Nacheinander und womöglich Gegeneinander ist es mit Sicherheit nicht.
»Umkehr« ist für die Bibel von Beginn an eine ganzheitliche Angelegenheit. Wenn der Ruf Jesu erfolgt, ist der Freiraum da, das ganze Leben einzusetzen. Und andersherum: Nur wer alles einsetzt, nutzt den Freiraum zum Glauben. Es besteht eine unbedingte, direkte Verbindung von Zuspruch und Anspruch Gottes auf mein Leben.
Deutlich wird dies auch in jenen Bibelstellen, die der Theologe Ernst Käsemann »Sätze heiligen Rechtes« nennt. Bekanntestes Beispiel ist ein Satz aus dem Vaterunser: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Jesus spitzt im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt. 18,21-35) zu, was gemeint ist: Vergebung empfangen und weitergeben gehören unbedingt zusammen. Wird die Gnade Gottes nicht weitergegeben, verspielt man sie.
Oder ein Satz Jesu aus Matthäus (Mt. 25,40): »Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan. Was ihr ihnen nicht getan habt, habt ihr mir auch nicht getan.« Unmissverständlich bringt Jesus selbst die Gottesbeziehung und das menschliche Miteinander zusammen.
Dietrich Bonhoeffer bedenkt in »Nachfolge« das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk. 10,25-29). Darin gibt es auch einen »Kairos«. Der von Straßenräubern Überfallene liegt dort und braucht Hilfe. Den Kairos in dieser Situation ergreift allerdings nur jener Samariter, der tatsächlich hilft. Das Gleichnis ist Teil einer Diskussion zwischen Jesus und Schriftgelehrten um die Frage, wer denn nun mein Nächster sei. Jesus lässt keinen Spielraum für eine Antwort. Wann immer jemand in Not ist, wird ihm jener zum Nächsten, der tatsächlich handelt. Nicht in theoretischen Überlegungen ereignet sich Nachfolge und Glaube, sondern im konkreten Tun.
Hingabe
Unsere Enkel spielen mit Lego. Sie bauen ihre Welt. Wir haben seit fast einer Stunde nichts von ihnen gehört. »Kommt, Essen!« Keine Reaktion. Sie haben alles um sich herum vergessen. Sie geben sich völlig ihrem Spiel hin.
Oder: Die beiden Nachbarsjungs bolzen im Garten. Bumm, bumm. Der Fußball knallt gegen die Garagenwand. Sie dribbeln, hechten, kabbeln sich. Mich, mit dem Rasenmäher im Nachbargarten, scheinen sie gar nicht zu bemerken.
Oder: Meine Kollegen sind im Gespräch. Ich höre irgendetwas von »Klima« und »Wahlen« und folgere, es geht um Klimapolitik. Ich möchte ihnen etwas sagen, komme jedoch nicht dazwischen. Zu sehr sind sie ins Gespräch vertieft.
So ist Hingabe.
Sie wird nicht verordnet und befohlen. Sie geschieht freiwillig, völlig ohne jeden Druck. Sie wird aus Interesse geboren, oder aus Freude, oder aus Liebe. Hingabe ist aus meiner Sicht ein anderes Wort für »Glauben« oder »Nachfolge«.
Jetzt wird deutlich, wie mein und unser Handeln und das Wirken Gottes aufeinander bezogen sind. Sie gehören untrennbar zusammen. Gott schenkt Glauben, Hoffnung und Liebe – und ich erlebe sie in der Hingabe meiner Zeit, Gedanken, Aktionen und Fantasie. Ich »verliere mich« an Christus und seine Botschaft. Ich »gebe mich voll hin« für die Sache Gottes ... Und natürlich ist dies freiwillig und von Herzen und nicht eine verkrampfte Aktion im Gehorsam gegenüber einer unangenehmen Forderung.
Was nicht unkritisch betrachtet werden will. Nie vergessen werde ich meinen Onkel, schon leicht angesäuselt an der Theke. Er meinte: »Nie wieder werde ich mich an etwas hängen und mein Leben dafür einsetzen! Oder sogar bereit sein, für jemanden zu sterben!« Ich hatte von meinem Glauben gesprochen, er sprach vom größten Fehler seines Lebens, dem Gehorsam gegenüber dem Führer. Da hatte er sich mit seinem ganzen jungen Leben hingegeben und war sogar bereit gewesen, für Volk und Vaterland zu sterben. Und er war tief enttäuscht worden.
Ich kann ihn verstehen. »Hingabe« als Lebens-Prinzip ist sehr fragwürdig. Wenn sich jemand an der falschen Stelle investiert, wird er oder sie nicht gewinnen, sondern verlieren. Im Ernstfall das Leben. Folglich werde ich sehr genau prüfen müssen, wofür und an wen ich mich hingebe.
Meinem Onkel habe ich damals gesagt: »Wenn du nichts hast, wofür du sterben würdest – hast du dann etwas oder jemanden, für das oder den du leben willst?« Es war mir so eingefallen. Er ist sehr still geworden und hat diese Frage zumindest hörbar für mich nicht beantwortet.
»Ja, ich will für dich leben.« So lautet mein gedachtes »Ja« zu Jesus Christus. Und wie wird es sichtbar, mal abgesehen davon, dass ich es vielleicht laut sage oder schwarz auf weiß schreibe? Es wird nur in der Hingabe sichtbar. Die Wirklichkeit meiner Christusbeziehung äußert sich in der Nachfolge, im Leben mit dem Glauben und im täglichen Miteinander. Wieder sehen wir, dass Denken und Machen, Glauben und Handeln unbedingt beieinanderbleiben. »Hingabe« ist ein guter Begriff dafür, finde ich – und vielleicht können wir auch darin vor allem von den Kindern lernen! (Mt. 18,3).
✪Der Ruf in die Nachfolge.
Der Neue Gehorsam.
Hingabe.
Welcher dieser drei Überschriften können Sie am meisten abgewinnen? Wie verstehen Sie das Verhältnis von Glauben als Geschenk und aktiver, tätiger Nachfolge?
3. Worauf wir uns verlassen
Ein Pastor erzählte: »Ich pflanze Kartoffeln. Kommt mein kleiner Sohn, damals etwa drei Jahre alt. Er schaut mir zu. »Papa, was machst du?« »Ich pflanze Kartoffeln.« »Warum steckst du sie in die Erde?« »Im Sommer kommen dann acht oder zehn wieder raus, wenn ich sie ernte!« Der Kleine ist beeindruckt. »So viele? Stimmt das auch wirklich?« »Ja, mein Sohn, das kannst du mir glauben.« Noch zweimal fragt mein Sohn nach. Dann plötzlich rennt er ins Haus.« Der Pastor grinste jetzt und wartete einen Moment. Wir fragten uns, was er denn wohl mit seiner Story sagen wollte.
Er erzählte weiter: »Nach zwei Minuten kommt mein Sohn. In der Hand hält er ein kleines Siku-Auto.«
Nun hatten wir verstanden. Welch schönes Bild! Der Kleine hat begriffen, was »Glauben« bedeutet. Nicht im Garten des Lebens stehen und dies oder das »für wahr halten«, nicht eine Theorie im Kopf haben, sondern der Zusage des Vaters vertrauen. Und daraufhin handeln. Das ist »Glauben«. Der Vater sagt etwas, ich höre und ich handle daraufhin.
So einfach ist das? Ja, im Grunde ist es so einfach!
Auch biblische Geschichten setzten ähnliche Akzente. Der Bericht von der Speisung der Fünftausend etwa enthält im Blick auf unser Handeln viele gute Hinweise. Die Begebenheit ist von allen vier Evangelisten überliefert.