»Hallo, Jasmin?«, erklang die besorgte Stimme ihrer Mutter. Jasmin berührte kurz Masas Rücken, um ihm zu bedeuten, dass er anhalten sollte.
»Hallo, Mama – was ist denn los?«, fragte Jasmin verängstigt.
»Ich habe versucht, dich zu erreichen. Hast du die Nachrichten gesehen? Leute auf der ganzen Welt sind auf den Straßen und spielen verrückt. Niemand weiß, was es mit den goldenen Wolken auf sich hat – a-aber man munkelt, die Regierung würde etwas geheim halten. Manche behaupten sogar, die Welt würde – untergehen.«
Ein lauter Schluchzer war zu hören. Jasmin wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. In diesem Augenblick wünschte sie sich verzweifelt, bei ihrer Familie zu sein, und doch klaffte eine Distanz von zehntausend Kilometern zwischen ihnen.
»Mama, soweit ich weiß, sind es nur Sonnenflares, und die sind nicht gefährlich«, versuchte Jasmin ihre Mutter zu beruhigen, obwohl sie genau wusste, dass dem nicht so sein konnte.
»Jasmin, ich habe Angst. Papa ist vor fünf Minuten nach Hause gekommen –«
Es gab eine kurze Unterbrechung, dann war die Stimme ihres Vaters zu vernehmen: »Jasmin! Bist du in Sicherheit? Bist du mit deinem Freund zusammen?«
Jasmin hatte einen Kloß im Hals, und der Schweiß tropfte ihr von der Stirn. »Wir sind auf dem Fuji-san. Du weißt doch, der große heilige Berg von Japan.«
»Ihr beide müsst euch unbedingt vor den Strahlen schützen!«, sagte ihr Vater atemlos. »An der Uni ist das Gerücht im Umlauf, dass die goldenen Wolken das Ergebnis zweier fusionierender schwarzer Löcher sind.«
Es gab wieder eine Pause. Jasmins jüngerer Bruder, Simon, hatte seinem Vater offenbar das Mobiltelefon aus der Hand gerissen.
»Simon?«, vermutete Jasmin.
»Jepp, hallo Jasmin. Papa und Mama sind ganz komisch. Alle quasseln vom Weltuntergang, aber niemand weiß, was wirklich los ist. Naja, uns geht es gut. Jedenfalls, wenn du das nächste Mal nach Hause kommst, bringst du mir ein cooles Game mit, ja?«
Jasmins Augen wurden feucht. Sie wollte etwas sagen, doch dann erklang wieder die Stimme ihrer Mutter: »Wir gehen jetzt … den Keller – und … weiß nicht wie lange die Verbindung noch hält«, kam es aus dem Lautsprecher. Ihre Stimme war nur noch schwach und stockend zu vernehmen. »Ihr müsst euch Schutz suchen! Versprich mir … wir uns wiedersehen. Jasmin, ich …«
Dann brach die Verbindung ab. Jasmin konnte nichts sehen, außer gleißendes, weißgoldenes Licht. Masayuki stand vor ihr und hielt ihre andere Hand fest umschlossen.
»Komm.«
Masayuki führte sie weiter den unsichtbaren Bergpfad hinauf. Jasmin wusste nicht weiter und ließ sich willenlos von ihm leiten. Ein seltsames, unirdisches Summen begann, die Atmosphäre zu schwängern und wurde immer lauter. Es übertönte Jasmins Schluchzen, die Lautsprecher und selbst die Sirenen in der Ferne. Furchtbare Trauer drückte Jasmin auf den Magen. Sie wollte zu ihrer Familie … Mama … Papa … Simon …
In ihrem Kummer blieb sie ruckartig stehen, wobei ihre Hand Masas Griff entglitt. Er drehte sich zu ihr um und schloss sie so innig in seine Arme, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Es fühlte sich an, als würden sie verschmelzen.
»Es ist alles gut, Jasmin. Ich bin bei dir. Ich liebe dich.«
Das Summen war zu einem ohrenbetäubenden Lärm angeschwollen. Der Boden begann unheilvoll zu beben. Man konnte weder etwas sehen noch etwas klar vernehmen. Jasmin schmiegte sich so fest es ging an Masayukis Körper an.
Es gab einen gewaltigen Ruck, der die Erde heftig erbeben ließ. In diesem Moment durchdrang die weißgoldene Substanz, die sich vom Firmament her auf sie zubewegt hatte, den Leib der Welt. Zwei Universen verschmolzen zu einem. Ein Gefühl des unendlichen Glücks und der Vollkommenheit durchflutete die Körper aller Lebewesen auf der Erde. Mit einem weiteren heftigen Ruck waren das Licht und der Lärm urplötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ein Erdbeben, wie es die Welt nie zuvor erlebt hatte, erschütterte das Land. Über ihnen grollte der Vulkan bedrohlich. Masayuki und Jasmin versuchten, sich zu ducken, doch der Tremor war so stark, dass sie aneinandergeklammert auf den harten Felsen geschmettert wurden. Auf den weiten Flächen Japans öffneten sich nun große Risse, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Die Klüfte dehnten sich aus und verschluckten ganze Wälder, Berge und Städte.
Auch am Himmelsdach ereignete sich ein seltsames Schauspiel. Die Atmosphäre wurde ganz allmählich in rote, blaue und grüne Farbtöne getränkt. Neben den goldenen Strahlen war auch das Abendrot, das noch vor wenigen Minuten den Himmel über dem Terrain im Westen erfüllt hatte, spurlos verschwunden. Drei gigantische, bunt brillierende Sphären verfärbten das Himmelsgewölbe und verliehen der Umgebung ein düsteres und mysteriöses Ambiente.
Jasmin und Masayuki lagen am Fuße einer Felsklippe. Fest umschlungen und mit zusammengekniffenen Augen warteten sie, bis das Beben abgeklungen war.
»J-Jasmin – l-leben wir noch?«, stockte Masayuki von heilloser Ungläubigkeit gepackt.
Jasmin brauchte noch eine ganze Weile, bis sie wieder zu ihrer Stimme fand: »Ich weiß es nicht – was ist nur geschehen?«, stieß sie durch ihre klappernden Zähne hervor und sah langsam auf. Sie fürchtete sich vor dem, was sie als nächstes erblicken würde. Jasmin lockerte die Umarmung. Auch Masayuki hob vorsichtig den Kopf – beide erstarrten augenblicklich in einer paralysierenden Trance. Das Spektakel, das sich ihnen bot, war mit einem einzigen Blick wohl nicht zu erfassen. Beide Überlebenden starrten mit Entsetzen auf die drei gewaltigen Lichtscheiben am Himmel, die einen geheimnisvollen, buntschimmernden Mischmasch von Farbtönen auf ihre Gesichter zurückwarfen.
»Was sind … Sind das Planeten? W-was sind das für merkwürdige Farben überall?«, raunte Masayuki, ohne die Augen vom glühenden Firmament abzuwenden.
»Öhm – ich äh, habe echt keine Ahnung – träumen wir?«, stotterte Jasmin, die drei kreisrunden Scheiben, die zusammen fast den ganzen Himmel abdeckten, fixierend.
Masayuki senkte langsam seinen Kopf und stupste Jasmin mit dem Ellbogen an. »Sieh mal«, sagte er gleichermaßen erstaunt wie entsetzt. Er zeigte zum Horizont, der sich kaum merklich auf und ab zu bewegen schien.
Jasmin erkannte nicht auf Anhieb, was sich vor ihren Augen abspielte. »Was ist das? Ist das etwa – eine Welle? Ein – ein Tsunami?« Sie hatte eine böse Vorahnung.
Masayuki blinzelte. In der pulsierenden Atmosphäre, in der sich die Farben überschlugen, konnte man nicht allzu viel erkennen. »Rein geographisch gesehen müsste eine Flutwelle aus dieser Perspektive und Entfernung ungefähr drei bis vier Kilometer hoch sein«, erklärte er langsam und berechnend.
Sie sahen der sich ausbreitenden Linie zu, wie sie näherkam und alles um sie herum verschluckte. Als die Wand das Festland erreicht hatte, erkannten sie, dass es sich in der Tat um einen Tsunami handelte – und was für einen! Die gigantische Wassermauer kam aus dem Pazifischen Ozean auf den heiligen Berg zu gekrochen und begann, ihn resolut zu umringen. Der Wasserspiegel stieg über eine Zeitspanne von einer Viertelstunde bedrohlich an. Jasmin und Masayuki waren zu verstört, um noch irgendetwas zu tun, außer dem Treiben der Naturkräfte zuzusehen. Etwa einen halben Höhenkilometer unter ihnen verlangsamte sich der Anstieg der im bunten Farbenspiel schimmernden Wasseroberfläche. Alles um sie herum hatte sich in einen Regenbogenozean verwandelt. Es war ein schlichtweg unfassbarer Anblick. Wie es aussah, hatte die Welle ein paar hundert Meter unter ihnen ihren Höhepunkt erreicht.
»Das müssen mindestens drei Kilometer über dem Meeresspiegel sein«, bemerkte Masayuki tonlos.
Jasmin sah mit fassungsloser Miene den Horizont entlang, bis sie hinter sich plötzlich eine gewaltige Lichtröhre entdeckte, die sich über den Felsspitzen des Vulkankraters gegen den Himmel erhob. Sie spürte, wie Masayuki sie energisch am Arm antippte. Ihr Blick richtete sich deshalb wieder gegen Osten, wo mehrere gewaltige, goldene Lichtsäulen aus dem Ozean empor- und dem glimmenden Himmel entgegenragten. Der Wasserpegel nahm nun rasch wieder ab. Mehrere Strudel,