Als der Schnellzug am Bahnhof Shizuoka ankam, war Jasmin froh, dass sie der sich in Tristesse suhlenden Männerhorde endlich entfliehen konnte. Stabsoffizier Kanda war noch immer nicht zurückgekehrt, doch das interessierte sie jetzt nicht mehr. Durch die Barrieren rennend und mit einem etwas steifen Rücken entdeckte sie an einer Zeittafel der Busstation lehnend den hochgewachsenen und sonnengebräunten Masayuki mit seinen zum Kamm aufgestellten blondgefärbten Haaren schon von weitem. Sie fielen einander mit einem herzlichen Aufprall in die Arme. Masayuki streichelte sanft über ihr leicht welliges, heute luftgetrocknetes Haar.
»Ich habe dich vermisst«, schnurrte Jasmin zärtlich.
»Ich dich auch – das kannst du mir glauben. Und, bereit für ein Abenteuer nur für uns zwei?«
Im Bus setzten sie sich in die hinterste Reihe. Eine Gruppe junger Leute, die vor allem aus Pärchen nicht japanischer Abstammung zu bestehen schien, stieg nach und nach in das Fahrzeug ein. Ein Zweiergespann, das sich eine Reihe vor ihnen niedergelassen hatte, war dem englischen Akzent zufolge amerikanischer Herkunft: der Mann hatte kurzes, blondes Haar und einen dichten Dreitagebart, die Frau dagegen dunkle Haut und seidige, kastanienrote Locken. Ein weiteres Pärchen sprach Deutsch, soweit Jasmin ihren Sprachkenntnissen trauen konnte. Der Mann jenes Paares schien arabische Wurzeln zu haben, und seine Partnerin hatte südostasiatische Gesichtszüge. Der Bus holperte mittlerweile eine steile Waldstraße entlang.
»Echt schön, dich zu sehen«, erfreute sich Masayuki und tätschelte Jasmin den Kopf. »Wie schlägst du dich mit deiner neuen Knochenarbeit in Kobe?«
»Naja, Knochenarbeit kann man es noch nicht nennen. Wie du ja weißt, bin ich noch immer im Training. Aber Kobe ist eine schöne Stadt. Ich mag die Balance zwischen Meer und Bergen«, erklärte Jasmin und packte Masas neckende Hand. Sie musste unwillkürlich an die letzte Nacht denken.
»Dann hast du dich also schon gut eingelebt? Freut mich zu hören«, gab sich Masayuki etwas steif.
Jasmin wusste, dass Masayuki mit der Situation nicht glücklich war. Er war eigentlich dafür gewesen, dass sie sich eine Stelle in Tokio suchte, was sie auch versucht hatte. Doch wie das Schicksal es nun mal wollte, fand sie ihr Glück in Kobe, dessen japanische Silben schicksalsgetreu »das Tor der Götter« hießen. Sie beide hatten Politikwissenschaft studiert und zwei Jahre lang – bis vor vier Wochen – gemeinsam in einem kleinen Apartment in Tokio gelebt. Masayuki ließ einen tiefen Seufzer hören.
»Ich weiß, es ist nicht einfach«, begann Jasmin zögernd und legte Masas Hand auf ihren Schoss, »aber wir werden eine Lösung finden. Ganz bestimmt«, schloss sie aufmunternd.
»Ja – ich weiß, ich weiß«, seufzte Masayuki und stierte dabei mit trüber Miene aus dem Panoramafenster.
Jasmin ärgerte sich ein wenig, dass sie sich bereits zu diesem Zeitpunkt mit diesem schwierigen Gesprächsthema auseinandersetzen mussten. Es gab momentan einige Dinge, die ihr im Kopf herumschwirrten und über die sie sich gerne mit Masayuki beraten wollte, wie zum Beispiel ihr verwegener Traum und die Soldaten im Shinkansen. »Offenbar hat die Regierung heute und morgen die ganze Shinkansen-Strecke von Fukuoka bis nach Tokio komplett für sich reserviert. Ich hatte Glück, dass ich überhaupt einen Platz ergattern konnte. Weißt du etwas darüber?«
Masayuki schien verdutzt. »Im Bahnhof Tokio war die Hölle los. Es war fast kein Durchkommen. Überall waren Militärtrucks und Leute der Selbstverteidigungsstreitkräfte mit Gewehren. Aber der Zug nach Shizuoka war praktisch leer«, erwiderte er.
»Das habe ich mir gedacht, denn im Shinkansen habe ich mitbekommen, dass sie alle nach Tokio fahren, um dort in die Maboroshi-Line umzusteigen. Keine Ahnung, was das bedeuten soll, aber es hat sich nicht nach einem positiven Anlass angehört.«
Masayuki zuckte mit den Schultern. »Uns geht es jedenfalls nichts an, sonst würde ja etwas in den Nachrichten stehen.«
Diese Art des Denkens ist typisch japanisch, dachte Jasmin verbissen, sagte aber nichts. Wenn eine Katastrophe bevorstand und die Bevölkerung nicht gewarnt wurde, ging es sie dennoch etwas an.
Der Bus stoppte abrupt – sie hatten ihr Ziel erreicht. Die Passagiere, die vor ihnen gesessen hatten, stiegen aus und traten voran. Jasmin, die noch nie hier gewesen war, hatte keine Ahnung, wo sie waren oder welchen Weg sie nun einschlagen mussten. Masayuki jedoch hatte den Berg Fuji schon zweimal bestiegen. Einmal mit seinem Vater und einmal mit seinen Kollegen aus der Uni.
»Sicherheitshalber habe ich einen unserer Atlanten eingepackt«, sagte Masayuki grinsend.
»Gott sei Dank. Ich hätte nämlich keine Ahnung, wo es langgeht«, gab Jasmin wahrheitsgemäß zu.
Masayuki arbeitete zurzeit in einer Firma, die moderne Karten für GPS-Geräte und klassische Weltatlanten traditionsgemäß aus Papier herstellte. Er war ein ausgesprochener Kartenfreak und hatte demnach oft dicke Wälzer dabei, die mit Koordinaten und unzähligen Symbolen vollgedruckt und für den einfachen Bürger praktisch ungebräuchlich waren. Jasmin hatte sich inzwischen damit abgefunden, auf das GPS in ihrem Smartphone zu verzichten, wenn sie mit Masa unterwegs war, denn er bestand stets darauf, ihr gemeinsames Ziel nur mit seinen Karten zu finden.
Zuerst folgte das Wanderduo einer geteerten Straße, die quer durch eine Wiese mit Sträuchern führte. Der Weg war bereits ziemlich steil und mit einem Rucksack auf dem Rücken und schwülen dreißig Grad war der Aufstieg von Anfang an eine Reise, die in Erinnerung bleiben würde.
»Ich dachte, wir wären auf einem Berg. Wie kann es denn so heiß sein auf dieser Höhe?«, beklagte sich Jasmin schon nach wenigen Minuten außer Atem.
Obwohl Masas Gepäckstück verglichen mit ihrem etwa den dreifachen Durchmesser aufwies, ihr Mittagessen, vier Dosen Bier und einen riesigen Wälzer beinhaltete, schienen ihm weder die Hitze noch die Steigung etwas anzuhaben. Er lachte hämisch. »Das ist erst der Anfang. Warte nur, bis wir über die Strauchgrenze kommen, dann gibt es nicht mal mehr einen richtigen Weg, und Schatten kannst du auch vergessen. Das nennt man wandern.«
Jasmin zog eine gequälte Grimasse, und Masayuki lachte nur noch lauter. Sie mochte es, wenn Masa lachte. Es hatte etwas Herzhaftes und Aufrichtiges an sich.
»Was hast du eigentlich in deinen überdimensionalen Rucksack gepackt?«, fragte sie keuchend.
»Ach, nichts Besonderes. Nur ein paar Notfallrationen, zwei Regenmäntel, ein Messer und eine Taschenlampe. Man weiß ja nie, wann man was braucht.«
»Notfallrationen! Das klingt nach etwas Essbarem.«
Masayuki warf ihr einen vielversprechenden Blick über die Schulter zu. »Naja, ich hatte am Morgen etwas Zeit, wie du ja weißt.« Jasmin schnitt erneut eine Grimasse.
»Ich dachte mir, wir könnten die Sandwiches, wenn wir oben sind, unter den Sternen genießen. Ein paar Bierchen und Snacks habe ich auch noch im Angebot.«
»Genial – kann es kaum erwarten. Aber glaubst du, die Sterne werden sich heute Abend zeigen?«, argwöhnte Jasmin heftig atmend.
»Da bin ich mir auch noch nicht so sicher. Dann sehen wir eben Sonnenflares – klingt fast genauso romantisch, nicht?«, witzelte Masayuki und grinste dabei breit.
Jasmin erwiderte seinen Scherz, indem sie ihm einen Klaps auf den Hintern verabreichte. »Übrigens, nochmals sorry für die Verspätung. Ich hatte einen üblen Traum und konnte lange nicht schlafen.«
»Mach dir nichts draus. Ehrlich gesagt habe ich auch schlecht geschlafen und hätte beinahe verpennt.«
»Du auch?«, fragte Jasmin aufmerksam.
»Ja, ich habe schlecht geträumt.