Ich muß gestehen, diese Darlegung frappierte mich; sie entstammte jedenfalls nicht einer phantastischen Weltanschauung, sondern war das Produkt eines aufmerksamen Nachdenkens über die Vorkommnisse des realen Lebens.
»Eure Analogik ist keine gewöhnliche, Mynheer,« antwortete ich; »aber sie scheint überzeugend zu sein.«
»Scheint? Sie ist es wirklich! Sagt mir, was findet Ihr in Euren Geschichtswerken? Eine Aufzählung derjenigen geschichtlichen Erscheinungen, derjenigen Ereignisse, welche sich in dem Zeitpunkte, von welchem aus wir erzählen können, teils wirklich zugetragen haben, teils zugetragen haben sollen. Ist das Geschichte? Das ist nur einfache Chronik; denn wo bleiben die geschichtlichen Kräfte und Gesetze? Der Naturforscher, der Chemiker wirkt gleichsam schöpferisch – freilich nur in sehr beschränktem Sinn – indem er durch die ihm bekannten Naturkräfte nach den ihm ebenso bekannten Naturgesetzen verändert, zerstört oder hervorbringt. Was aber thut der Geschichtsforscher? Er sammelt die äußeren Thatsachen, reiht sie an einem beliebigen Faden auf, wie der Kaffer seine Glasperlen, und kann nichts über ihre Erzeugung und Entwickelung sagen, ebensowenig, als der Kaffer weiß, wie seine Glasperlen entstanden sind. Und dennoch giebt er diesem Kalender den Namen der Geschichte! ja, die Geschichte sollte die Mutter der Politik sein! Das aber, was Ihr Geschichte nennt, ist ein unfruchtbares Ding. Was sind Eure sogenannten Politiker? Sie streiten sich um die Früchte von Bäumen, die sie nicht gepflanzt haben, und verstehen es nicht, einen Kern zu pflanzen, welcher ihnen diese Früchte auf einem ebenso sichern wie friedlichen Wege bringen würde. Ich sage Euch, Mynheer: erst dann, wenn unsere Erkenntnis hindurchgedrungen ist in jene geheimnisvollen Tiefen, aus denen von dem allmächtigen Schöpfer selbst angeordnete weltgeschichtliche Gewalten nach unumstößlichen weltgeschichtlichen Gesetzen weltgeschichtliche Thatsachen emporwachsen lassen aus dem Boden, dessen Produkte wir bisher hinnahmen, ohne uns ihrer Erzeugung zu bemächtigen, dann erst können wir sagen: wir haben Geschichte. Dann werden wir Herren der Ereignisse sein; dann werden wir dieselben zu machen, zu fabrizieren verstehen, wie der Handwerker sein Werk und der Poet sein Gedicht. Dann wird die Geschichte das Kind Politik gebären, welches als Königin des Erdkreises demselben den ewigen Frieden bringt und das Schwert in die Pflugschar verwandelt, denn der Streit, der Krieg wird zur Unmöglichkeit werden, da jeder die Gesetze und Kräfte kennt, nach und mit denen der andere wirkt und handelt. Statt der Konkurrenz der Waffe wird die Konkurrenz des Friedens walten, und die Entwickelung des Menschengeschlechtes wird auf Bahnen geleitet werden, die so hoch über unserer jetzigen Kenntnis liegen, daß wir von ihnen nicht die mindeste Ahnung besitzen. Bis dahin aber wollen wir eifrig nach jenen Tiefen forschen und in Demut bekennen, daß wir noch Stümper sind!« Er hatte mit einer Begeisterung gesprochen, welche sein Auge mit Flammen begabte. Dieser äußerlich so schlichte Mann war ein tiefer Denker und ein hinreißender Redner. Auch wenn ich danach gesucht hätte, es wäre mir doch nicht gelungen, sofort eine Entgegnung auf seine Thesen zu finden. Ich schwieg daher, und auch er vermied es, den Eindruck seiner Worte durch ein Brechen dieses Schweigens zu zerstören.
So ritten wir still und in Gedanken versunken nebeneinander her, bis er endlich doch den gesenkten Kopf erhob und zu mir herüberschaute.
»Das war ein Blick in die Zukunft, Mynheer. Laßt uns auch an die Gegenwart denken! Ihr wollt über die Berge. Habt Ihr eine bestimmte Adresse, an welche Ihr Euch da wenden wollt?«
»Nein. Ich fliege, wie der Vogel fliegt, und wo ich einen Baum finde, da lasse ich mich auf einen Tag in seinen Zweigen nieder. Und doch,« fügte ich, mich besinnend, hinzu, »ich hätte wohl eine Adresse, wenn man bei diesem Worte nicht an einen bekannten Punkt denkt.«
»Ihr sucht jemand?«
»Was man eigentlich unter Suchen versteht, nein; aber ich traf in Zeeland eine Familie, welche Verwandte in Transvaal besitzt, von denen seit langer Zeit keine Kunde in die Heimat gedrungen ist, und wurde gebeten, mich gelegentlich nach denselben zu erkundigen.«
»Wie heißen diese Verwandten hier?«
»Van Helmers.«
»Hm, ich habe Tausende von Boers unter meinem Kommando gehabt und kenne die meisten beim Namen; es waren einige Helmers unter ihnen. Könnt Ihr mir nicht vielleicht etwas Näheres angeben?«
»Ich weiß nur, daß sie vor den Engländern über die Drachenberge in das Transvaal gestiegen sind.«
»Und aus Zeeland stammen sie?«
»Ja, wie ich bereits sagte, der Großoheim von ihnen ging nach dem Kap; es können von demselben also Kinder und Enkel vorhanden sein.«
»Was war dieser Großoheim?«
»Schiffer.«
»Und hieß Lucas van Helmers?«
»Allerdings.« rief ich überrascht, »Ihr kennt die Familie, Mynheer?«
»Ich habe von diesem Lucas einiges gehört. Seine Verwandten – hm, er ist längst tot, und ich muß mich besinnen,« antwortete er mit einem eigentümlichen Zwinkern seines Auges.
Sein ernstes Gesicht nahm einen leis-schelmischen Ausdruck an, der mich schließen ließ, daß er von den Betreffenden mehr wisse, als er mir sagen wollte. Was hatte er für Gründe zu dieser Zurückhaltung?
Da plötzlich hielt er sein Pferd an, und auch ich parierte das meinige. Der aus Lagern grob geschichteten Sandsteines gebildete Boden war stellenweise von dunklen Massen eruptiven Gesteines durchbrochen; diese Felsenlager hinderten uns, weit zu sehen, doch dämpften sie den Schall nicht, welcher uns den Hufschlag eines uns schnell entgegenkommenden Pferdes zutrug.
»Wer kommt?« fragte er, das Roer von der Schulter nehmend.
Auch ich hatte sofort mein Gewehr ergriffen, doch senkten wir beide zu gleicher Zeit die Waffen: ein leichter Pony trabte um die Felsenecke, und auf ihm saß eine Mädchengestalt, deren Erscheinung auch unter andern Verhältnissen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte.
Sie trug einen leichten, roten Rock, dessen Mieder gürtelartig nur die Hälfte der Taille umschloß; über die eine Schulter war nach der andern Hüfte herüber ein Wildkatzenfell geschlungen, und das lockige, tiefschwarze Haar quoll in dichter Fülle unter einem aus bunten Federn hergestellten Mützchen hervor. Arme und Füße waren bloß, und die dunkle Farbe derselben ließ in der Reiterin ein Kaffernmädchen vermuten. Ein Blick in das Gesicht machte diese Vermutung zur Gewißheit, wenn auch die Bildung desselben nicht die scharfe Prägung zeigte, welche man bei Individuen gewöhnlichen Schlages beobachtet.
Als sie uns erblickte, riß sie die Zügel an sich und legte die kleine Hand an den Messergriff, welcher unter dem Katzenfelle hervorsah, doch ging ihre Besorgnis schnell in ein Lächeln über, und sichtlich freudig überrascht rief sie:
»Kees Uys! Ihr wollt zu uns?«
»Ja, mein Mietje. Ist die Mutter daheim?«
»Ja.«
»Und Jan?«
»Nein. Er sucht einen Leoparden.«
»Und du? Wo willst du hin, Mädchen?«
»Hinüber zu Nachbar Zelmst. Ich habe Eile. Mutter ist krank, und Zelmst soll ihr helfen.«
»Kind, du kommst vor nachts nicht hinüber, und der Weg ist gefährlich.«
Sie lächelte leichthin.
»Ich fürchte mich nicht, Baas Uys, das wißt Ihr ja, und Mutter ist diesmal so schlimm, daß der Nachbar kommen muß.«
»Ist Nachbar Zelmst ein Arzt?« fragte ich.
»Er ist ein Boer, der einiges von den Kräutern versteht,« antwortete mir Kees Uys.
»So kann Mietje wieder umkehren; ich werde der Mutter zu helfen versuchen.«
Das Mädchen blickte erfreut zu mir herüber.
»So seid Ihr ein Offizier van der Gezondheid?« fragte sie.
»Ich bin auch Arzt und habe meine Reiseapotheke bei mir,« antwortete