Kala führte die Gruppe an, denn sie hatte die Stimme ihres Lieblings erkannt. Neben ihr befand sich die Mutter des Kleinen, der nun leblos unter den Klauen der grausamen Bestie lag. Die Löwin, obwohl kräftiger, schneller und geschmeidiger, verspürte kein Verlangen, den Kampf mit den wütenden Affen aufzunehmen. Mit hasserfülltem Grollen verschwand sie im Dschungel.
Tarzan schwamm schnell ans Ufer und atmete auf, als er festen Boden unter den Füßen spürte. Das Bad hatte ihn erfrischt, und von nun an versäumte er es nie, einen schnellen Sprung in den See oder das Meer zu machen, wenn er Gelegenheit fand. Es dauerte lange, bis Kala sich an diesen Anblick gewöhnt hatte; sie und ihre Stammesgenossen konnten zwar schwimmen, wenn Gefahr sie dazu zwang, aber sie liebten das Wasser nicht und suchten es nie aus freien Stücken auf.
Tarzan dachte noch oft an das Abenteuer mit der Löwin, denn solche Ereignisse unterbrachen die Eintönigkeit seines Lebens, das sonst nur aus der Suche nach Nahrung, Essen und Schlafen bestand. Der Stamm, dem er angehörte betrachtete ein Gebiet, das sich etwa fünfundzwanzig Meilen entlang der Küste und fünfzig Meilen ins Landesinnere erstreckte, als seine Domäne. Zumeist waren die Tiere auf Wanderung, gelegentlich aber hielten sie sich monatelang an der gleichen Stelle auf. Da sie sich mit großer Geschwindigkeit durch die Bäume fortbewegten, durchstreiften sie zuweilen das gesamte Gebiet in wenigen Tagen. Nachts schlugen sie dort, wo die Dunkelheit sie überraschte, ihr Lager auf und bedeckten ihre Schädel, selten auch die Körper, mit den breiten Elefantengräsern. Waren die Nächte kühl, so schmiegten sich wohl mehrere Affen aneinander, um nicht zu frieren. Tarzan schlief all die Jahre in den Armen seiner Mutter.
Dass die mächtige, wilde Gorillafrau den Abkömmling einer anderen Rasse liebte, stand außer Zweifel, und auch er wandte dem riesigen Tier mit dem zottigen Fell die ganze Zuneigung zu, die er seiner richtigen Mutter entgegengebracht hätte, wäre sie am Leben gewesen. Kala strafte ihn zwar, wenn er nicht gehorchte, aber sie war nie grausam oder unbeherrscht ihm gegenüber und machte jede Strafe, die sie ihm auferlegte, bald wieder durch Zärtlichkeiten gut.
Tublat, Kalas Mann, hingegen hasste Tarzan und hatte sogar mehrmals versucht, ihn umzubringen. Tarzan ließ keine Gelegenheit vorübergehen, seinem Pflegevater zu zeigen, dass das Gefühl der Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Wann immer er ihm einen Streich spielen, ihm Grimassen schneiden oder ihm aus der Sicherheit von Kalas Umarmung Beleidigungen zurufen konnte, tat er es mit Wonne. Seine überragende Intelligenz ermöglichte es ihm, immer neue kleine Teufeleien zu ersinnen, um Tublats ohnehin schweres Leben noch unerträglicher zu machen.
Schon in frühester Kindheit hatte er gelernt, aus langen Gräsern Seile zu flechten. Mit diesen versuchte er ständig, Tublat zu Fall zu bringen. Und als ihm die erste Schlinge mit gleitendem Knoten gelang, machte er sich ein Vergnügen daraus, Tublat die Schlinge von einem hohen Ast über den Schädel zu werfen. Als ihm das mehrmals zur Zufriedenheit glückte, übte er sich darin beim Spielen mit anderen Affenkindern und war bald ein ungemein geschickter Lassowerfer, dem kein fliehendes Wild entging. Tublats Nächte wurden nunmehr zum Alptraum. Nie wusste er, wann sich die Schlinge um seinen Nacken legen würde und ihn zu ersticken drohte.
Kala strafte Tarzan, Tublat schwor schreckliche Rache, der alte Kerchak ermahnte und bedrohte Tarzan - ohne Erfolg. Bei jeder Gelegenheit senkte sich die weiche Schlinge über Tublats mächtigen Schädel, wurde zugezogen und brachte ihn dem Erstickungstod nahe. Die anderen Affen hatten ihr Vergnügen an diesen Demonstrationen, denn Tublat war allgemein unbeliebt. Aber Tarzans Gedanken gingen bereits weiter. Wenn er seine Spielkameraden und Tublat mit der Schlinge fangen konnte, warum dann nicht auch Sabor, die Löwin? Eine Idee war geboren, aber sie sollte erst in späteren Jahren wunderbare Früchte tragen.
Sechstes Kapitel: Kämpfe im Dschungel
Die Wanderungen brachten den Stamm oft in die Nähe der stummen Hütte bei dem kleinen Hafenbecken. Für Tarzan bedeutete dieser Ort immer wieder eine Quelle geheimnisvoller Erregung. Er spähte durch die Fenster, erklomm das Dach, blickte durch den schwarzen Kamin hinab und fragte sich, welche Wunder wohl innerhalb dieser Wände wohnten. Oft beschäftigte er sich mit der Tür. denn sein Instinkt verriet ihm, dass sie den Zugang zu der Behausung darstellte. Dabei war er immer allein, denn die anderen Affen mieden die Gegend; der Schrecken des dunklen Donnerstockes, der sie damals in die Flucht schlug, hatte in den zehn Ähren nichts von seiner Wirkung verloren.
Tarzan hatte nie erfahren, in welcher Beziehung er zu der Hütte stand. Die Sprache der Affen umfasste nur wenige Worte, und es fehlten ihr die Begriffe, um die Einrichtung der Hütte und das, was darin geschehen war, zu beschreiben.
Kala hatte sich damit begnügt, Tarzan in vagen Andeutungen zu erklären, dass sein Vater ein seltsamer, weißer Affe gewesen sei. Aber er ahnte nicht, dass Kala nicht seine richtige Mutter war.
Als Tarzan sich wieder einmal mit der Tür beschäftigte, wollte es der Zufall, dass er die richtigen Teile berührte und den sinnreichen Mechanismus in Bewegung setzte. Zu seiner Verblüffung schwang die Tür plötzlich auf. Sekundenlang wagte er nicht, die Hütte zu betreten, aber als seine Augen sich an das drinnen herrschende Halbdunkel gewöhnt hatten, trat er zögernd ein. In der Mitte des großen Raumes lag ein Skelett, an dem noch einige Stofffetzen hafteten. Ein ähnliches, nur etwas kleineres Skelett entdeckte er auf dem Bett, und ein drittes, winziges, fand er in der Wiege.
Diesen stummen Zeugen einer vergangenen Tragödie widmete Tarzan nur flüchtige Aufmerksamkeit. Das Dschungelleben hatte ihn mit dem Anblick toter Tiere vertraut gemacht. Sein Interesse hingegen erregten die Einrichtung der Hütte und der Inhalt der Kisten und Schubladen. Lange betrachtete er die eigenartigen Gegenstände - seltsame Werkzeuge und Waffen, Bücher, Zeitschriften, Kleidungsstücke, soweit sie der zerstörenden Wirkung des feuchten Dschungelklimas widerstanden hatten. In einer Lade, deren Inhalt von der Witterung fast völlig verschont geblieben war, entdeckte er ein langes, blitzendes Jagdmesser, an dessen scharfer Klinge er sich sofort die Hand verletzte. Ungerührt spielte er weiter damit herum und stellte fest, dass er mit dem neuen Spielzeug dicke Späne von Tisch und Stühlen schneiden konnte. Nach einer halben Stunde wurde er dieses Vergnügens müde und setzte seine Entdeckungsreise fort. In einem mit Büchern gefüllten Wandregal fand er ein dünnes Buch voller bunter Bilder, unter denen seltsame Zeichen standen. Viele der Bilder stellten Affen dar, die ihm ähnelten. Gleich am Anfang - unter dem Zeichen A - entdeckte er kleine Äffchen, die den Pavianen glichen, welche er täglich durch die Zweige jagen sah. Keiner der Affen jedoch hatte Ähnlichkeit mit Kala oder seinem Pflegevater Tublat. Andere Bilder sagten ihm nichts, denn er hatte nie ein Schiff oder einen Zug, eine Kuh oder ein Pferd gesehen. Tarzan ahnte nicht, dass er im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal dem Alphabet begegnet war. In der Mitte des Buches und weiter hinten freilich stieß er noch einmal auf Geschöpfe, die er kannte: Sabor, die Löwin, und Histah, die Schlange. Kopfschüttelnd betrachtete er die Bilder immer wieder von neuem, bis ihm plötzlich zu Bewusstsein kam, dass die Dämmerung hereingebrochen war. Er legte das Buch in die Lade, schob sie zu und verließ die Hütte. Er achtete sorgfältig darauf, dass sich die Tür durch den geheimnisvollen Mechanismus wieder schloss, denn er wollte nicht, dass andere seine Schätze entdeckten.
Als er in die zunehmende Dunkelheit schritt, bemerkte er, dass seine Rechte noch immer das Jagdmesser umklammerte. Er hatte kaum zwei Dutzend Schritte getan, als aus dem Buschwerk zu seiner Rechten