Eine Stunde verging, ehe sich die Affen wieder zur Hütte wagten, aber zu ihrem Zorn fanden sie die Tür geschlossen. Bei Kerchaks wilder Flucht war sie ins Schloss gefallen, und der von Clayton ersonnene Riegel widerstand allen Anstrengungen. Auch das Fenster gab ihren vereinten Bemühungen nicht nach, so dass sie sich unwillig in die Wälder zurückzogen, aus denen sie gekommen waren.
Kala war mit ihrem angenommenen Kind nicht ein einziges Mal auf den Boden zurückgekehrt, aber jetzt rief Kerchak ihr zu, sie solle sich ihnen anschließen. Da kein Zorn in seiner Stimme schwang, folgte Kala der Aufforderung. Als die anderen Affen sich ihr näherten und das kleine Wesen in ihren Armen besichtigen wollten, verscheuchte sie sie mit grollendem Knurren und angriffslustig gebleckten Zähnen. Der Rückmarsch war nicht leicht für sie. Während die anderen Jungen sich auf den Rücken ihrer Mütter festklammerten, musste Kala das Kleine mit einem Arm an die Brust pressen, um es nicht zu verlieren. Die Erinnerung an das eigene Junge, das ihr entfallen und von Kerchak getötet worden war, ging ihr nicht aus dem Sinn. So trug sie den kleinen Lord Greystoke über die weite Strecke. Seine kleinen Hände hatten sich in ihr zottiges Fell gegraben, sie spürte die Wärme seiner Finger auf ihrer Haut.
Fünftes Kapitel: Der weiße Affe
Kala pflegte und nährte ihren kleinen Findling mit zärtlicher Liebe, aber sie wunderte sich, dass er nicht so schnell stark und kräftig wurde wie die Kinder anderer Affen. Es dauerte fast ein Jahr, bis er gehen konnte, aber wie dumm stellte er sich erst an, wenn es ans Klettern ging! Hätten die anderen Äffinnen, mit denen Kala sprach, geahnt, dass der Kleine schon dreizehn Monate zählte, als er zu Kala kam, dann wäre er ihnen gewiss als völlig hoffnungsloses Wesen erschienen, denn ihre eigenen Kinder machten in zwei oder drei Monaten die gleichen Fortschritte wie Kalas Kind in fünfundzwanzig Monaten.
Tublat, Kalas Mann, war besonders verdrießlich. Er wollte den Kleinen beseitigen, aber Kala bewachte ihn mit Argusaugen.
»Er wird nie ein richtiger, großer Affe werden«, sagte Tublat ärgerlich. »Du wirst ihn ewig mit dir herumschleppen und beschützen müssen. Welchen Nutzen wird er dem Stamm bringen? Keinen, er wird ihm ständig eine Last sein.«
»Wenn es sein muss, dass ich ihn ewig tragen soll, dann werde ich es eben tun«, erwiderte Kala schlicht.
Tublat ging zu Kerchak und bat ihn, seine Autorität geltend zu machen und Kala zum Verzicht auf Tarzan, wie sie den Kleinen genannt hatten, zu bewegen. Der Name Tarzan bedeutete Helle Haut.
Als Kerchak aber mit Kala darüber sprach, drohte sie, dem Stamm den Rücken zu kehren, wenn man sie und den Kleinen nicht in Ruhe ließe. Da es ein unveräußerliches Recht aller Dschungelbewohner ist, in der Jugend über ihr Schicksal selbst zu bestimmen, übte niemand mehr Druck auf Kala aus, denn sie war eine wohlgestaltete Äffin, die man nicht verlieren wollte.
Als Tarzan heranwuchs, machte er rasche Fortschritte. Mit zehn Jahren war er ein ausgezeichneter Kletterer und übertraf seine kleinen Brüder und Schwestern auf der Erde in vielen Übungen. Er unterschied sich auf manche Weise von ihnen, am meisten durch seine Intelligenz, aber an Größe und Kraft blieb er ihnen unterlegen, denn mit zehn Jahren sind Menschenaffen voll ausgewachsen und oft über zwei Meter groß, während Tarzans Wuchs dem eines normalen Knaben seines Alters entsprach.
Aber was steckte nicht alles in diesem Jungen! Von frühester Kindheit an hatte er geübt, sich von Ast zu Ast zu schwingen, wie er es bei seiner Mutter sah, und später jagte er täglich stundenlang mit seinen Brüdern und Schwestern durch das Geäst. Hoch in den Bäumen konnte er Zwischenräume von sechs bis acht Metern überspringen. Mit unfehlbarer Sicherheit packte er selbst dann die Äste, wenn Vorboten eines Tornados sie peitschten. Er konnte sich blitzschnell zwanzig Meter tief von Ast zu Ast fallen lassen oder die schwankendsten Baumwipfel mit der Leichtheit eines Vogels erreichen. Obwohl er erst zehn Jahre zählte, besaß er die Kräfte eines dreißigjährigen Mannes und war geschickter und ausdauernder als der trainierteste Athlet. Und seine Kräfte wuchsen mit jedem Tag.
Sein Leben bei den wilden Affen war glücklich, denn er konnte sich an kein anderes Leben erinnern und ahnte nicht, dass es auf der Welt noch etwas anderes gab als die Wälder und die wilden Dschungeltiere, mit denen er vertraut war.
Im Alter von zehn Jahren kam ihm die Erkenntnis, dass zwischen ihm und seinen Spielkameraden ein großer Unterschied bestand. Sein schlanker, von Sonne und frischer Luft dunkel gebräunter Körper wurde für ihn plötzlich Anlass, sich zu schämen, denn er war völlig unbehaart wie eine Schlange oder ein anderes Reptil. Er versuchte, dieses Gebrechen dadurch zu verheimlichen, dass er sich von Kopf bis Fuß mit Schlamm bestrich, aber der Schlamm trocknete und platzte ab. Außerdem bereitete ihm diese Verpackung solches Unbehagen, dass er lieber Scham als solche Unbequemlichkeit ertragen wollte. In dem höher gelegenen Land, das sein Stamm oft durchstreifte, gab es einen kleineren See, in dessen Wasser Tarzan zum ersten Mal sein Gesicht sah.
Er war entsetzt von dem Anblick, der sich ihm bot. Verlegen wandte er den Kopf, aber der Affe, mit dem er an den See gekommen war, beachtete ihn nicht, sondern beugte sich tief über das Wasser und begann schmatzend und gurgelnd zu schlürfen.
Tarzans Entsetzen hielt an, als er seine Gesichtszüge, die Züge des aristokratischen Sprosses einer alten englischen Familie, mit denen seines Gefährten verglich. Es war schon schlimm genug, unbehaart zu sein, aber kaum zu ertragen, obendrein ein solches Gesicht zu besitzen! Er wunderte sich, dass die anderen Affen ihn überhaupt anzublicken vermochten.
Dieser schmale Schlitz von einem Mund, diese winzigen, weißen Zähne! Wie kümmerlich wirkten sie neben den wulstigen Lippen und den mächtigen Eckzähnen seines Artgenossen! Und die kleine Nase! Sah sie nicht aus, als sei sie zurückgeblieben? Er wurde rot, als er sie mit den schönen, breiten Nüstern des neben ihm Kauernden verglich. Den härtesten Schlag aber versetzte ihm der Anblick seiner Augen. Zwei schwarze Punkte, graue Kreise darum, dann nichtssagendes Weiß. Fürchterlich! Nicht einmal die Schlangen hatten so scheußliche Augen.
Tarzan war so versunken in das Studium seiner Gesichtszüge, dass er nicht hörte, wie sich hinter ihm das Gras teilte, um einen mächtigen, gelb geflammten Körper durchzulassen. Auch sein Gefährte vernahm das Geräusch nicht, denn sein Schlürfen übertönte es.
Knapp zwanzig Schritte hinter den beiden schmiegte sie sich an den Boden und peitschte mit ihrem Schwanz das Dschungelgras: Sabor, die mächtige Löwin - bereit zum Sprung auf ihre ahnungslosen Opfer. Auf dem Bauch schob sie sich vor, bis nur noch zehn Schritte sie von den beiden trennten; langsam zog sie die Hinterläufe an, die mächtigen Muskeln spielten unter dem blanken Fell. Der Schweif peitschte nicht mehr das Gras, die Löwin schien zu Stein geworden. Sabor war eine weise Jägerin. Einem anderen Dschungeltier wäre ihr heiseres Brüllen beim Angriff als Dummheit erschienen, da es die Beute warnte. Sabor wusste es besser. Sie kannte das ausgeprägte Gehör anderer Dschungeltiere, denen ein knisternder Grashalm mehr verriet als der lauteste Schrei, und sie wusste, dass sie den Überfall nicht ohne Geräusch durchführen konnte. Ihr heiseres Gebrüll sollte keine Warnung sein, sondern das Opfer lähmen, vor Schreck erstarren lassen.
Soweit es den Affen betraf, hatte Sabor richtig kalkuliert. Der kleine Bursche verharrte sekundenlang zitternd auf der Stelle, und diese Sekunden besiegelten sein Schicksal. Tarzan, das Menschenkind, reagierte anders. Sein Leben in den tausend Gefahren des Dschungels hatte ihn gelehrt, sich jeder Situation blitzschnell anzupassen und ihr mit Selbstvertrauen zu begegnen; seine größere Intelligenz ließ ihn seine Entschlüsse in Sekundenbruchteilen fassen. Ihn lähmte das Brüllen der Löwin darum nicht, sondern rief alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten auf den Plan.
Vor ihm lag das tiefe Wasser des Sees, hinter ihm der sichere Tod, ein grausames Ende zwischen fetzenden Tatzen und mächtigen Fängen. Tarzan hasste das Wasser, es diente ihm nur dazu, den Durst zu stillen. Er hasste es, weil sich damit die Vorstellung kühler, unbehaglicher Regengüsse und des sie begleitenden Donners und Blitzschlags verband. Seine Mutter hatte ihn gelehrt, die tiefen Wasser des Sees zu meiden, und er war selbst Augenzeuge gewesen, als die kleine Neeta vor wenigen