Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt. Günter Neumärker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Neumärker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847660798
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aber es ist halt so. Was der Georg sich wünscht, das bekommt er meist auch: Besonders Dinge aus Papas Nachlass, auch die, auf die ich zuvor ein Auge geworfen habe, und die Mutter mir hoch und heilig versprochen hat, sie mir zu schenken.

       Die Schule in Ziegenhardt

      Heute, an einem Samstag im Dezember 1954, fahre ich mit meiner Mutter nach Ziegenhardt. Der Ort liegt fünf Kilometer von Waldbröl entfernt. Dort angekommen, begrüßt uns ein freundlicher Herr. Es ist der Lehrer Küpper, "Leiter" der dortigen Katholischen Zwergschule, zu der er uns nun führt. Mein Gott! So schön können Klassenräume aussehen. Der Fußboden, Kiefer, farblos lackiert. Die Möbel, rot-braune Tische und Stühle. Alles macht einen hellen, freundlichen und sauberen Eindruck. Dann gehen wir weiter ins Wohnzimmer, wo die Kaffeetafel schon gedeckt ist. Während ich anschließend mit Fränzchen, dem zweitjüngsten Sohn spiele, unterhält sich meine Mutter mit dem Lehrer, ohne dass ich hören kann, was dort gesprochen wird.

      Wenige Tage später fragt meine Mutter, ob ich wohl Lust hätte auf diese Schule zu gehen. Vor Freude klatsche ich in die Hände, mache einen Luftsprung und sage: „Ja sehr gerne.“

      So gehe ich im Januar 1955, nach den Weihnachtsferien, fröhlich zur Bushaltestelle vor unserem Bahnhof. Und während der Bus auf der Straße rangiert, um von dort aus wieder zurück fahren zu können, steige ich ein. Gleich in der ersten Reihe sitzt unsere frühere Haushilfe, die liebevolle Angnes. „Ich steige aber gleich aus“ meint sie, und ich erwidere, dass ich ab heute in Ziegenhardt zur Schule gehe. Die kennt Angnes gut, sie hat in dieser Katholischen Zwergschule ihren Kommunionsunterricht erhalten.

      Inzwischen ist Angnes Verkäuferin bei Neuhöfers, dem größten Lebensmittelladen in Waldbröl mit drei Geschäften im Ort und einer Filiale in Rossenbach. Da hat mich auch endlich der Busfahrer entdeckt, und fragt: „Wo kommst Du denn her?“ Während des Rangierens einsteigen, das dürfe ich nie wieder tun, ermahnt er mich freundlich.

      Zum ersten Mal erlebe ich nun, dass Schule auch Spaß machen kann. Wir sind 25 Kinder, von der vierten bis zur achten Klasse. Der Rohrstock als pädagogisches Hilfsmittel ist längst abgeschafft. Natürlich bleiben meine Schreib- und Leseprobleme bestehen, aber der Lehrer hat genügend Zeit, sich um mich zu kümmern, kann Fehler schneller erkennen, und ich kann daraus lernen. Darüber hinaus ist er Graphologe und kann allein aus meiner Schrift heraus mein Innenleben ergründen und korrigierend eingreifen. Heute lernen wir ein sehr gemütvolles Wintergedicht, das ich zu meiner Freude über fünfzig Jahre später im Internet wiederfinden werde.

       Rodelnde Kinder

      Nun rodeln sie wieder den Kirchberg hinab,

      die Mädchen u. johlenden Buben.

      Erst geht es gemächlich in mäßigem Trab,

      dann holpert's durch Mulden und Gruben.

      Am Friedhofstor kommt es erst richtig in Schwung

      und wird ein Rasen und Schießen.

      Es setzt über Gräben und Buckeln im Sprung,

      vergleitet dann sacht in den Wiesen.

      Und unten endlich, am Glöcknerhaus,

      da schwingt sich das wilde Getriebe aus.

      Schon kommen sie wieder talnieder gefegt,

      zu vieren, zu dritt und zu zweien.

      Der Franz hat sich bäuchlings aufs Sitzbrett gelegt.

      Die Ankettler toben und schreien.

      Das wirbelt und saust und der Schneestaub blitzt,

      dass sie vor Wonne erschauern.

      Und dort, wo die Kufe Funken verspritzt,

      steh'n schon wieder die Ersten und lauern

      und werfen, mit lockeren Bällen bewehrt,

      auf jeden, der eben vorüberfährt.

      So geht es bergauf und bergab ohne Rast,

      bis die Mütter rufen und winken.

      Allmählich der Schimmer des Tages verblasst.

      Im Dorfe die Hoflichter blinken.

      Zur Nacht, wenn der Westwind ans Fenster weht,

      dann hängen sie voller Vertrauen

      als letzten Wunsch an ihr Abendgebet:

      "Ach, lieber Gott, lass es nicht tauen!"

      Dann schlafen sie froh u. ermüdet ein.

      Und draußen fängt´s wieder an leise zu schnei'n

      Die ersten drei Strophen lerne ich mit meiner Mutter zusammen, sie liest mir vor, ich spreche nach, und im Nu kann ich die Verse auswendig. Natürlich gehe ich auch mit den nächsten Strophen zu ihr, aber sie weist mich ab und meint, ich müsse auch ohne ihre Hilfe lernen können. Enttäuscht sitze ich über meinem Buch, mein Gott, wie schwer das geht.

      Vier Jahre später wird sich herausstellen, dass ich doch einen Sehfehler habe, der bei jener Untersuchung in Waldbröl nicht erkannt wurde und ich deshalb mit den Ohren besser lernen konnte als mit den Augen.

       Zu früh gefreut

      Karneval in Waldbröl ist eine rein katholische Angelegenheit, das gilt selbst für uns Kinder, obwohl wir überhaupt nicht verstehen können, was so verwerflich daran ist, sich in dieser Zeit als Indianer oder Cowboy zu verkleiden. Ist es aber!

      Jetzt rückt der Rosenmontag näher, in der Schule wird schon darüber gesprochen, wie gefeiert wird, und ich freue mich, weil ich mich nun guten Gewissens daran beteiligen darf.

      Doch heute am Samstag bin ich geknickt. Gerade hat der Lehrer Küpper zu mir gesagt, ich solle am Montag zu Hause bleiben. Schade! Aber wenigstens den Karnevalsschlager der Saison, „Da lachst'e dich kapott, dat nennt mer Camping", durfte ich in Ziegenhardt fröhlich mitsingen.

       Durchgefallen

      Ich kann es nicht glauben, was mir Doro da gerade erzählt hat, der Onkel Johannes habe sein Examen nicht bestanden. Doch es stimmt. Das allein wäre ja noch kein Beinbruch, wenn er einen zweiten Anlauf nähme, tut er aber nicht. So wohnt er nun wieder ganz in Waldbröl, liegt seiner Mutter auf der Tasche, löst Rabattkarten ein (1,50 DM), lässt sich von seinen Freunden zum Bier einladen und lebt in den Tag hinein. In meinen Augen ist er ein Versager.

       Die fünfte Klasse

      Während Paul-Erhardt nun zum Gymnasium geht, werde ich in die fünfte Klasse versetzt, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nichts zu befürchten.

      Einmal wurden uns einige mehrstellige Zahlen diktiert, die wir untereinander schreiben müssen, um sie dann zu addieren. Mein Ergebnis weicht von den anderen ab. Zunächst vergleicht der Lehrer die Zahlen, die stimmen, dann aber bemerkt er, dass ich meine Zahlen linksbündig geschrieben habe (Linkshänder). Ich lerne etwas dazu, anschließend stimmt mein Ergebnis mit den anderen überein. So werde ich nun fit fürs Gymnasium gemacht.

      Meine Schulkameraden sind ausgesprochen nett zu mir, obwohl ich doch „protestantisch“ bin und zwischen den beiden Konfessionen noch „kalter Krieg“ herrscht (Katholische / Evangelische Böcke scheißen in die Röcke). Das Einzige, worüber sie sich wundern ist, dass ich mich nach dem Morgengebet nicht bekreuzige. Wobei ich mich wiederum darüber wundere, dass sie sich auch beim Vorübergehen an dem großen Kruzifix auf dem Schulweg bekreuzigen.

      „Morgen fährt der Uwe Claussen mit Dir nach Ziegenhardt“, sagt mir meine Mutter. Uwe kenne ich schon, mit dem war ich schon in der ersten Klasse in Waldbröl zusammen. Dann verließ er unsere Schule und besuchte des Lehrers wegen eine andere Schule in einem anderen Ort.

      Nun sind wir schon zwei Protestanten in der Katholischen Zwergschule. Während ich mich in der Klasse auf meinen Platz setze, bleibt Uwe noch vorne stehen, und der Lehrer