Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt. Günter Neumärker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Neumärker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847660798
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Zuerst finde ich ein silbernes, sehr glänzendes Geldstück (50Pfg). Dann ein Röhrchen, voll mit roten Pillen. Die muss ich doch einmal probieren...

      Die Hausärztin bringt mich schnell ins Krankenhaus, der Magen wird mir ausgepumpt, und ich lebe weiter. Nun bin schon zum zweiten Mal dem Tod von der Schippe gesprungen.

       Liebesbeweis

      Das Arbeitszimmer des Offiziers ist nun unser Schlafzimmer. Auch die Mutti schläft hier wenn sie aus Bonn kommt.

      Gerade kommt sie nach Hause. Wir liegen schon im Bett, schlafen aber noch nicht. Die Mutti hat für jeden von uns einen Pinsel für den Farbkasten mitgebracht, und ich darf mir als erster einen aussuchen. Ich nehme den roten. Dass ich als erster wählen darf, empfinde ich als großen Liebesbeweis.

       Schloss Homburg

      Heute gibt es etwas Besonderes: Wir fahren mit Mutti nach Schloss Homburg. Dieses Schloss ist unser Oberbergisches Heimatmuseum.

      Zuerst geht es mit dem Triebwagen der OVAG über Nümbrecht nach Kalkofen und von dort zu Fuß an unser Ziel. Unterwegs bewirft mich der Georg mit Kletten, die ich dadurch kennenlerne.

      Gleich am Eingang begrüßt uns eine Studienkollegin unserer Mutter, die uns durch das Schloss führt. Höhepunkt der Besichtigung ist ein Turmzimmer. Dort hebt die Kommilitonin ein paar Fußbodenbretter an, und wir haben den Blick frei in das Burgverlies. Das ist schaurig schön. Anschließend zeigt sie uns die Schmetterlingssammlung, die im selben Raum steht. Im Schrank an der Wand werden viele Schubladen geöffnet, und da sind sie, in allen Farben und in allen Größen, aus aller Herren Länder.

      1973 werde ich zum letzten Mal das Schloss besuchen. Die Böden sind mit Nadelfilz ausgelegt, vom Verlies keine Spur mehr, und auch die Schmetterlinge werden nicht mehr gezeigt. Schade!

       Café Huhn

      Gestern waren wir mit der Mutti wieder einmal im Café Huhn. Kuchen und Kakao haben lecker geschmeckt. Zuletzt hat die Mutter noch eine Tüte Eiswäffelchen gekauft.

      Die Mama duzt die Chefin, denn sie sind zusammen zur Schule gegangen. Das Café selbst ist nicht allzu groß. Das wird sich aber bald ändern, denn bald werden die Gäste auch von weit her kommen, und so muss das Café zwei Mal erweitert werden. Dann wird im ursprünglichen Gastraum ein Fernsehapparat stehen, und wenn ich zum Fernsehen nicht zu Nölls gehen möchte, gehe ich eben ins Café Huhn, esse eine Schillerlocke, das ist ein Hörnchen aus Blätterteig, mit Sahne gefüllt und werde dort in die Röhre schauen.

      1990 werde ich meinem Sohn Waldbröl zeigen, unser Haus, und auch das Café Huhn. 2008 erzählt mir ein Herr aus Wuppertal, er habe bei Huhns jährlich eine Tonne Christstollen backen lassen als Werbegeschenk für seine Kunden.

      Die Volksschulzeit

       Die Schule in Waldbröl

      Ja, jetzt heißt sie noch so, und in Österreich wird sie auch noch Jahrzehnte später so heißen. Ich werde mich dann bei jedem „Tatort“ aus Österreich freuen, wenn ich dort ein Schulgebäude sehe, auf dem groß Volksschule steht.

      Schon lange vor der Einschulung sagt die Tante Ruth zu mir, dass bald der Ernst des Lebens beginnt. Und wenn ich gefragt werde, ob ich mich denn auch auf die Schule freue, so ist meine Antwort stets ein klares „Nein.“ Nun ist es also so weit, der Ranzen gepackt, die Schultüte gefüllt, so begleitet mich Tante Ruth in die Schule. Ich setze mich neben Paul-Erhardt in die dritte Reihe. Unser Lehrer heißt Müller, und er erzählt den lieben Eltern, was nun auf sie und uns zukommt. Unter anderem empfiehlt er einen Mittagsschlaf, der bei uns ja obligatorisch ist. Und während ich ihn heute halte, vergnügen sich meine Geschwister mit meiner Zuckertüte, sie naschen sie ratzekahl leer, nicht ein Keks ist mir geblieben. Ja, meint meine Schwester: "Wir hatten schließlich auch keine." Nun habe ich keine. Dies war das erste Mal, dass ich für die Mängel, an denen meine Geschwister gelitten hatten oder noch leiden werden, herhalten muss.

      Als ersten Buchstaben lernen wir das kleine „e“. Nun sitze ich neben meiner Oma in ihrem Wohnzimmer und mache Hausaufgaben. Drei Reihen „e“ sollen wir auf die Schiefertafel schreiben. Schnell erledigt, denke ich, aber meine „ees“ gefallen meiner Oma gar nicht, und so greift sie zu Schwamm und Lappen. Oh, wie ist das Schreiben doch mühsam.

      Unsere Haushilfe heißt Angnes, die liebevollste Hilfe, die wir jemals hatten. Bevor sie mich morgens weckt, zieht sie mir erst die Strümpfe an und dann sagt sie ganz sanft: „Günterchen, Du musst jetzt aufstehen.“ Dies ist die einzige Wohltat des Tages, denn auf unerfindliche Weise komme ich in der Schule nicht zurecht. Ich bin ein miserabler Schüler und habe erhebliche Probleme mit dem Lesen und der Rechtschreibung.

       Die großen Ferien

      Das schönste an der Schule aber sind doch immer noch die Ferien, und die großen stehen nun bevor. Leider darf ich nicht mit meiner Mutter und den Geschwistern an die Nordsee fahren, was ich als Strafe für meine schlechten Leistungen in der Schule empfinde. Tatsächlich war es eher ein Akt der Lieblosigkeit und der Gleichgültigkeit. So amüsiere ich mich in dieser Zeit zu Hause in unserem Dorf.

      Zum Beispiel mit Fredy. Er, so alt wie meine Schwester, will mir etwas Schönes zeigen, und zwar in unserem alten Hühnerstall. Was mag das sein, dort? Es sind Doktorspiele, natürlich streng wissenschaftlich. Dummerweise hat uns die Tante Ruth zuvor beobachtet, und sie ahnt Böses. Jetzt ist sie von ihrem Mittagsschlaf erwacht, und ich werde einem peinlichen Verhör unterzogen. Es ist unfassbar, aber sie hat einfach kein Verständnis für die Wissenschaft, und so geht sie mit mir in den Keller, um mir die Hose stramm zu ziehen.

      Nachdem ich mir die Hände gewaschen und die Tränen getrocknet habe, setzen wir, meine Oma, Tante Ruth und ich, uns in unseren Vorgarten und schauen uns den Festumzug anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Waldbröler Viehmarktes an. Besonders beeindruckt mich natürlich der Wagen der Schmiede Simon.

      Gewissensbisse werden die gute Tante noch fünfzig Jahre später quälen, weil sie mich jetzt gehauen hat, dann endlich wird sie mich dafür um Verzeihung bitten. Ich werde ihr sagen, dass es mir unendlich leid tut, dass sie sich so lange damit geplagt hat, denn ich weiß noch alles von diesem Tag, sogar die Farbe des Kleides, das sie trug. Nur, dass wir im Keller waren, habe ich dann längst vergessen. Ich muss es wohl als eine gerechte Strafe empfunden und verdrängt haben.

      Von der Nordsee kommt Post, das Wetter sei gut, und für mich hätten sie schon viele schöne Muscheln gesammelt. Tatsächlich überreicht mir Doro nach ihrer Rückkehr immerhin ein Säckchen voller Muscheln, aber es sind die miesesten Miesmuscheln, 08/15. Georg hingegen hat Schnecken-, Schwert- und andere kostbare Muscheln. Dazu eine Reihe von Souvenirs, die ich auch gerne gehabt hätte. So bin ich doppelt benachteiligt.

      Mittags kommt Paul-Erhardt vorbei und fragt, ob ich heute Abend mit zum Feuerwerk ins Schwimmbad dürfe? Ich darf nicht. Da aber protestiere ich, ich hätte schon nicht mit an die Nordsee gedurft, jetzt wollte ich wenigstens einen kleinen Ausgleich haben, und so darf ich denn doch mit. Mein Stolz darüber, nun etwas erlebt zu haben, was meine Geschwister nicht hatten, wird mir am nächsten Morgen dadurch vergällt, dass mir meine Schwester das Feuerwerk ziemlich genau beschreibt und mir zunächst erzählt, sie sei gestern auch dort gewesen, dann aber sagt sie, auf Langeoog habe es auch so ein Feuerwerk gegeben.

       Frischer Wind

      Mutti hat auch ihr zweites Examen bestanden. Von der Ausbildung her ist sie nun eine Pastorin, aber (Das Weib schweige in der Gemeinde, 1. Kor. 14, 34ff) als Frau darf sie sich nur Vikarin nennen. Es wird noch viele Jahre dauern, bis auch in der Kirche die Gleichberechtigung Einzug hält.

      Onkel Johannes studiert noch, und Opa meint, er solle sich sein Studium selbst verdienen. Onkel Johannes aber sagt: "Ich kann nicht arbeiten." Ich verstehe das nicht, Männis Onkel Erich und sein Onkel Albert arbeiten doch auch.

      Nun ist die Mutter wieder zu Hause und gibt Religionsunterricht