Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt. Günter Neumärker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Neumärker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847660798
Скачать книгу
die beiden. Als ich den Vorfall meiner Tante erzähle, sagt diese: „Iiih, hättest Du ihnen doch die paar Stachelbeeren in ihrem verrotzten Taschentuch gelassen."

      Gerne trinkt Tante Ruth Apfelsaft und isst dazu Holländische Sandkekse. Ich auch! Beides gibt es in der Kantine. Dort gibt es auch eine Musikbox, so etwas habe ich ja noch nie gehört und gesehen. Die aktuellen Schlager sind: „Das alte Försterhaus“ und „Am weißen Strand von Surabaja“. Stundenlang könnte ich zuhören, aber Tante Ruth wartet auf ihren Apfelsaft.

      Einmal in der Woche ist Tante Ruth zum Mittagessen bei einer Familie eingeladen. Es gibt Reibekuchen, oder wie der Berliner zu sagen pflegt, Kartoffelpuffer, und ich bin auch eingeladen. Mein Gott, wie leben die Menschen hier! Drei Familien teilen sich einen Raum, und der ist nur durch Wolldecken und Schränke abgeteilt, und das oft über Jahre hinweg! Wie soll da Intimität aufkommen?

      Heute Abend begleite ich Tante Ruth zunächst zu ihren Kurz-andachten, die sie jeden Abend auf anderen Fluren der Kasernenblöcke hält. Anschließend geht es zur "Jungen Gemeinde", dort liest und erzählt sie aus der "Feuerzangenbowle" von Heinrich Spörl. Noch kann ich nicht ahnen, dass diese Feuerzangenbowle ein bedeutender Teil meines Lebens sein wird.

      Mit der jungen Gemeinde fahre ich auch ins Umland nach Ratzeburg und Mölln. Erstaunt bin ich darüber, dass es den Till Eulenspiegel, der in Mölln begraben liegt, wirklich gegeben hat.

      Natürlich sorgt die liebe Tante Ruth auch dafür, dass ich etwas von Hamburg sehe. Sie organisiert mir Begleiter, die mit mir in den Tierpark Hagenbeck gehen, eine Hafenrundfahrt machen, und anschließend den Elbtunnel besuchen. Die Vorstellung allerdings, die Tunneldecke könnte brechen und die Wassermassen würden herab stürzen, beunruhigt mich doch ein wenig.

      Auch die schönsten Ferien gehen einmal zu Ende. Inzwischen ist der Busverkehr nach Ziegenhardt unterbrochen, weil die Straße erneuert wird. So muss ich die fünf Kilometer täglich mit dem Fahrrad fahren. Eigentlich ist nun der Zeitpunkt gekommen, ein eigenes Rad zu bekommen. Ich brauche es ja täglich. Bisher hörte ich immer, solange Du so schlecht in der Schule bist, brauchen wir gar nicht darüber zu reden. Nun bin ich in der Schule gut, aber ich bekomme es dennoch nicht. Die Tante Ruth, wie könnte es auch anders sein, würde mir ja eins kaufen, aber die Oma ist dagegen. So

      benutze ich die Räder meiner Geschwister. Erst vier Jahre später werde ich von meiner Patentante Ilse ein altes Fahrrad bekommen, das vor ihrem Laden stehen geblieben ist.

      Wenn ich morgens durch Rossenbach fahre, steht Angnes hinterm Fenster von Neuhöfers Filiale und winkt mir freundlich zu, das tut gut. In fünfzig Jahren werde ich ihr dafür noch danken.

      Erst jetzt kommen die von mir so gefürchteten Praktikanten. Und weil es Herbst ist, die Zeit der Weinlese, lernen wir sehr viel über den Rhein, den Wein und die Lieder, die sich um beide ranken. Ich werde keineswegs gedemütigt und erlebe eine so wundervolle Zeit, dass ich eines Abends im Bett weine, weil die beiden Herren nun ihr Praktikum abgeschlossen haben und uns bald wieder verlassen werden.

       Spätheimkehrer

      Im Herbst 1955 wird Konrad Adenauer nach Moskau eingeladen. Bisher hatte die Siegermacht Sowjetunion nur zur DDR diplomatische Beziehungen. Die Einladung erfolgt deshalb über die Botschaften in Paris. Adenauer nimmt die Einladung an, denn in Russland sind, zehn Jahre nach Kriegsende, immer noch zehntausend Soldaten in Gefangenschaft und Adenauer möchte, dass sie heim kommen.

      Das Ergebnis der Reise: Die beiden Staaten nehmen diplomatische Beziehungen zueinander auf, und die Gefangenen kommen frei.

      Einer dieser Spätheimkehrer ist Herr Dr. Poschmann, der Ehemann unserer Hausärztin. Mit vielen Waldbrölern stehe ich vor seinem Haus, um ihn zu empfangen.

      Später erzählt mir meine Oma, meine Mutter sei zur ihr ins Wohnzimmer gekommen und hätte geklagt: „Stell Dir vor, der Poschmann kommt heim, und mein Mann kommt nie wieder.“ Darüber bin ich doch sehr verwundert, denn mir gegenüber handelt meine Mutter den Tod meines Vaters so emotionslos cool ab, dass ich fest davon überzeugt bin, er mache ihr nichts aus.

       Jungschar

      Ich wäre gerne zu den Pfadfindern gegangen, aber in Waldbröl gibt es nur die Katholische Pfadfinderschaft St. Georg. Ich gehe in die Jungschar, da gibt es zwar Parallelen, aber es ist doch etwas ganz anderes.

      Wir tagen im Gemeindesaal, da, wo in meinen Kindergartentagen die Rutsche aufgebaut war, und heute lernen wir das Fahrtenlied: Wir lieben die Stürme.

      Ab 2011, inzwischen 66 Jahre alt, werde ich es im Shanty-Chor in Kellenhusen wieder singen, und in Gedanken bin ich dann wieder 10 Jahre alt, und sitze im Gemeindesaal.

       Die Aufnahmeprüfung

      “Morgen kommst Du zur Schule, damit wir für die Aufnahmeprüfung üben können”, fordert Herr Küpper den Uwe auf. Ha! denke ich, der muss noch für die Prüfung üben, und du bist so gut, dass du dies gar nicht brauchst. Stolz erzähle ich der Tante Ruth davon, wie gut ich doch bin. Sie sagt aber eher skeptisch nur “So, so." Da kommt meine Mutter vom Einkauf aus dem Dorf zurück und sagt: „Ich habe den Lehrer Küpper getroffen, du fährst morgen auch nach Ziegenhardt." Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr. Was war geschehen? Eigentlich wollte mir meine Mutter die Niederlage der nicht bestandenen Aufnahmeprüfung ersparen und hat mich gar nicht erst zur Prüfung angemeldet. Fräulein Mockert aber, Lehrerin am Gymnasium und Freundin meiner Mutter, gab ihr den Rat, mich doch zur Prüfung anzumelden, sie wolle dafür sorgen, dass ich in ihre Gruppe käme, und dann würde das schon klappen. Davon jedoch weiß ich nichts.

      Dieser Winter ist besonders kalt! Minus 36 Grad zeigt das Thermometer an der Flora Apotheke, als ich abends daran vorbei gehe. In dieser kalten Jahreszeit mache ich nun, ein Jahr später als Paul-Erhardt, die Aufnahmeprüfung für unser heimisches Gymnasium. Ich mache sie mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen und bin eher auf Moll gestimmt. Aber eigentlich läuft alles glatt. Es gibt keinerlei besondere Vorkommnisse. Natürlich habe ich im Diktat viel zu viele Fehler, aber das ist ja nichts Besonderes. Anders ist da schon die Sache mit dem Bild, das wir malen sollen. Das Thema heißt Wintersport. Freudig male ich eine belebte Wintersportarena und in den leeren, stahlblauen Himmel einen grünen Hubschrauber. Der gefällt der Prüferin, Fräulein Mockert, überhaupt nicht und gibt ihr Anlass zu herber Kritik und beißendem Spott. „Cortina mit Hubschrauber, ha, ha." Tatsächlich demonstriere ich damit aber, wie weit ich meiner Zeit schon wieder voraus bin. Später wird es kaum ein sportliches Ereignis geben, das nicht auch vom Hubschrauber aus gefilmt wird.

      Eigentlich habe ich diese wichtige Prüfung ja bestanden, ich habe nämlich einen Punkt mehr erlangt als Ilse Thiele, die aufgenommen wurde. Aber der Direktor will mich wegen der mangelnden Rechtschreibung nicht auf seiner Schule haben.

       Tausend Tode

      „Geh´mal in den Keller und mach die Waschküchentür zu!" „Nein Mutti, ich hab Angst." „Sei nicht albern." So gehe ich heute wie fast jeden Abend in den Keller. Das Licht der Waschküche wird vom Flur aus eingeschaltet. Ich schaue in den Raum, ob ein Einbrecher darin ist. Nein, gut so! Jetzt ist Eile geboten, er könnte ja vor der Tür stehen. Also flitze ich zur Tür und knalle sie mit Schwung zu, und zack - den Riegel vorgeschoben. Aber die Gefahr ist noch nicht vorbei. Aus Wut darüber, dass ich ihn ausgesperrt habe, könnte er jetzt durch die Tür schießen. Also drücke ich mich in die Ecke neben der Tür. Hier im toten Winkel bin ich sicher, aber mein Herz rast noch bis zum Hals, ich sterbe tausend Tode. Allmählich beruhige ich mich und gehe hoch.

       Kopfschmerzen

      Ach, wenn die Mutti doch nicht so oft Kopfschmerzen hätte. Diese plagen sie schon seit Jahren fast täglich. Ich kenne inzwischen alle Schmerzmittel (Thomapyrin, Gelonida, Spalttabletten, Aspirin) und ihre Werbesprüche (Schnell verklinget wie ein Ton, jeder Schmerz durch Melabon).

      Es kann durchaus geschehen, dass meine Mutter mir vorwirft, sie habe, weil ich unartig war, nun Kopfschmerzen bekommen. Das ist schlimmer als eine Ohrfeige, die es nur äußerst selten bei uns gibt, denn gehauen