Es begann ein neues Jahr; die Rosen kamen zum Vorscheine, die Schnecke auch.
»Sie sind jetzt ein alter Rosenstock!« sagte die Schnecke. »Sie müssen machen, daß Sie bald eingehen. Sie haben der Welt Alles gegeben, was Sie in sich gehabt haben, ob es von Belang war, das ist eine Frage, über die nachzudenken ich keine Zeit gehabt habe; so viel ist aber klar und deutlich, daß Sie nicht das Geringste für Ihre innere Entwicklung gethan haben, sonst wäre wohl etwas Anderes aus Ihnen hervorgegangen. Können Sie das verantworten? Sie werden jetzt bald ganz und gar nur Stock sein! Begreifen Sie, was ich sage?«
»Sie erschrecken mich!« sagte der Rosenstock. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Nein, Sie haben sich wohl überhaupt nie mit Denken abgegeben! Haben Sie sich jemals Rechenschaft gegeben, weshalb sie blühten, und wie der Hergang beim Blühen ist; warum so und nicht anders?«
»Nein!« sagte der Rosenstock. »Ich blühe in Freude, weil ich nicht anders konnte. Die Sonne schien und wärmte, die Luft erfrischte, ich trank den klaren Thau und den kräftigen Regen; ich athmete, ich lebte! Aus der Erde stieg eine Kraft in mich herauf, von Oben kam eine Kraft, ich vernahm ein immer neues, immer wachsendes Glück, und deshalb mußte ich immer blühen; das war mein Leben, ich konnte nicht anders!«
»Sie haben ein sehr gemächliches Leben geführt!« sagte die Schnecke.
»Gewiß! Alles wurde mir gegeben!« sagte der Rosenstock; »doch Ihnen wurde noch mehr gegeben! Sie sind eine dieser denkenden, tiefsinnigen Naturen, Einer dieser Hochbegabten, welche die Welt in Erstaunen setzen werden!«
»Das fällt mir nicht im Entferntesten ein!« sagte die Schnecke. »Die Welt geht mich nichts an! Was habe ich mit der Welt zu schaffen? Ich habe genug mit mir selbst und genug in mir selbst!«
»Aber müssen wir Alle hier auf Erden nicht unser bestes Theil den Andern geben, das darbringen, was wir eben vermögen? – Freilich, ich habe nur Rosen gegeben! – Doch Sie? Sie, die Sie so reich begabt sind, was schenkten Sie der Welt? Was werden Sie geben?«
»Was ich gab? Was ich gebe? – Ich spucke sie an! sie taugt nichts! sie geht mich nichts an. Setzen Sie Rosen an, meinetwegen, Sie können es nicht weiter bringen! Mag der Haselbusch Nüsse tragen, die Kühe und Schafe Milch geben, die haben jedes ihr Publikum, ich habe das meine in mir selbst! Ich gehe in mich selbst hinein, und dort bleibe ich. Die Welt geht mich nichts an!«
Damit begab die Schnecke sich in ihr Haus hinein, und verkittete dasselbe.
»Das ist recht traurig!« sagte der Rosenstock. »Ich kann mit dem besten Willen nicht hineinkriechen, ich muß immer heraus, immer Rosen ausschlagen. Die entblättern nun gar, verwehen im Winde! Doch ich sah wie eine Rose in das Gesangbuch der Hausfrau gelegt wurde, eine meiner Rosen bekam ein Plätzchen an dem Busen eines jungen, schönen Mädchens, und eine wurde geküßt von den Lippen eines Kindes in lebensfroher Freude. Das that mir so wohl, das war ein wahrer Segen. Das ist meine Erinnerung, mein Leben!«
Und der Rosenstock blühte in Unschuld, und die Schnecke lag und faulenzte in ihrem Hause. Die Welt ging sie nichts an.
Jahre verstrichen.
Die Schnecke war Erde in der Erde, der Rosenstock war Erde in der Erde; auch die Erinnerungsrose in dem Gesangbuche war verwelkt, – – aber im Garten blühten neue Rosenstöcke, im Garten wuchsen neue Schnecken; sie krochen in ihre Häuser hinein, spuckten aus, – die Welt ging sie nichts an.
Ob wir die Geschichte wieder von vorn zu lesen anfangen? – Sie wird doch nicht anders.
Der Schneemann.
»Eine so wunderbare Kälte ist es, daß mir der ganze Körper knackt!« sagte der Schneemann. »Der Wind kann Einem freilich Leben einbeißen. Und wie die Glühende dort glotzt!« – er meinte die Sonne, die eben im Untergehen begriffen war. »Mich soll sie nicht zum Blinzeln bringen, ich werde schon die Stückchen festhalten.«
Er hatte nämlich statt der Augen zwei große, dreieckige Stückchen von einem Dachziegel im Kopfe; sein Mund bestand aus einem alten Rechen, folglich hatte sein Mund auch Zähne.
Geboren war er unter dem Jubelrufe der Knaben, begrüßt vom Schellengeläute und Peitschengeknalle der Schlittenfahrten.
Die Sonne ging unter, der Vollmond ging auf, rund, groß, klar und schön in der blauen Luft.
»Da ist sie wieder von einer andern Seite!« sagte der Schneemann. Damit wollte er sagen: die Sonne zeigt sich wieder. »Ich habe ihr doch das Glotzen abgewöhnt! Mag sie jetzt dort hängen und leuchten, damit ich mich selbst sehen kann. Wüßte ich nur, wie man es macht, um von der Stelle zu kommen! – Ich möchte mich gar zu gern bewegen! – Wenn ich es könnte, würde ich jetzt dort unten auf dem Eise hingleiten, wie ich die Knaben gleiten sehe; allein ich verstehe mich nicht darauf, weiß nicht wie man läuft.«
»Weg! Weg!« bellte der alte Kettenhund; er war etwas heiser und konnte nicht mehr das echte »Wau! Wau!« aussprechen; die Heiserkeit hatte er sich geholt als er noch Stubenhund war und unter dem Ofen lag. »Die Sonne wird Dich schon laufen lehren! Das habe ich vorigen Winter an Deinem Vorgänger und noch früher an dessen Vorgänger gesehen. Weg! Weg! und weg sind sie alle!«
»Ich verstehe Dich nicht, Kamerad,« sagte der Schneemann. »Die dort oben soll mich laufen lehren?« Er meinte den Mond; »ja, laufen that sie freilich vorhin, als ich sie fest ansah, jetzt schleicht sie heran von einer andern Seite.«
»Du weißt gar nichts!« entgegnete der Kettenhund; »Du bist aber auch eben erst aufgekleckst. Der, den Du da siehst, ist der Mond; die, welche vorhin davonging, war die Sonne; die kommt morgen wieder, sie wird Dich schon lehren, in den Wallgraben hinabzulaufen. Wir kriegen bald anderes Wetter; ich fühle das schon in meinem linken Hinterbeine; es sticht und schmerzt: – das Wetter wird sich ändern!«
»Ich verstehe ihn nicht,« sagte der Schneemann, »aber ich habe es im Gefühle, daß es Unangenehmes ist, das er spricht. Sie, die so glotzte und sich alsdann davon machte, die Sonne, wie er sie nennt, ist auch nicht mein Freund: – das habe ich im Gefühle!«
»Weg! Weg!« bellte der Kettenhund, ging dreimal um sich selbst herum, und kroch dann in seine Hütte, um zu schlafen.
Das Wetter änderte sich wirklich. Gegen Morgen lag ein dicker, feuchter Nebel über der ganzen Gegend; später kam der eisige Wind: das Frostwetter packte Einen recht; aber als die Sonne aufging, welche Pracht! Bäume und Gebüsch waren mit Reif überzogen, sie glichen einem Walde von Korallen, alle Zweige schienen mit strahlend weißen Blüthen über und über belegt. Die vielen und feinen Verzweigungen, die während der Sommerzeit der Blätterreichthum verbirgt, kommen jetzt alle zum Vorscheine. Es war wie ein Spitzengewebe, glänzend weiß; aus jedem Zweige strömte ein weißer Glanz. Die Hängebirke bewegte sich im Winde; sie hatte Leben, wie alle Bäume im Sommer: es war wunderbar schön! Und als die Sonne schien, nein, wie flimmerte und funkelte das Ganze, als läge Demantstaub auf Allem und als flimmerten über den Schneeteppich des Erdbodens die großen Diamanten, oder man konnte sich auch vorstellen, daß unzählige kleine Lichter leuchteten, weißer selbst als der weiße Schnee.
»Das ist wunderbar!« sagte ein junges Mädchen, das mit einem jungen Manne in den Garten trat. Beide blieben in der Nähe des Schneemannes stehen und betrachteten von hier aus die flimmernden Bäume. »Einen schöneren Anblick gewährt der Sommer nicht!« sprach sie, und ihre Augen strahlten.
»Und so einen Kerl, wie dieser hier, hat man im Sommer erst recht nicht,« erwiderte der junge Mann, und zeigte auf den Schneemann. »Er ist ausgezeichnet!«
Das junge Mädchen lachte, nickte dem Schneemanne zu und tanzte darauf mit ihrem Freunde über den Schnee dahin, der unter ihren Schritten knarrte und pfiff, als wenn sie auf Stärkemehl gingen.
»Wer waren die Beiden?« fragte der Schneemann den Kettenhund; »Du bist längere Zeit hier im Hofe wie ich, kennst Du sie?«
»Ob ich sie kenne!« antwortete