Fast schlafe ich ein, als Marcel sagt: „Komisch. Auch ich habe bei meiner Aussage so getan, als wäre Julians Angriff auf dich eher ein Versehen. Frag mich nicht, warum. Ich konnte dir das nicht sagen, weil ich Angst hatte, dass du mich dann hasst. Aber da du selbst eine ähnliche Aussage gemacht hast …“
Ich sehe an ihm hoch in sein Gesicht.
„Ich denke, dass wir es auch anders gar nicht wahrhaben wollen. Du kanntest Julian vor dem Übergriff wahrscheinlich besser, als wir alle“, sage ich. „Du hast ihn auf einer Ebene kennengelernt, auf der kannte ich ihn nicht. Mit uns hat er gegessen und unter einem Dach geschlafen … mehr nicht.“
Mir kommen die vielen Momente in den Sinn, in denen Julian bei mir war und mir oftmals Angst machte, und dass er immer wieder drohte, unser eh nur halbes Geschwisterverhältnis ganz zu vergessen. Aber das will ich Marcel nicht sagen. Er hat das wahrscheinlich schon nicht geglaubt, als ich ihm das zu Tims Schutz steckte und auch nicht, als ich es beim Pizzaessen in unserer Küche wiederholte.
„Ich glaube nicht, dass ich ihn besser kannte. Du weißt, dass ich mich nur mit ihm anfreundete, um etwas über die Geschichte herauszubekommen, die mir mein Großonkel erzählt hatte. Und Julian sah in mir nur den Nutzen, den mein Auto und meine Bereitschaft, ihn überallhin zu fahren, brachte. Wir waren eigentlich keine Freunde und es wäre nie soweit zwischen uns gekommen, wenn ich dir nicht begegnet wäre.“
Ich kuschele mich dichter an seine Brust und überlege, wann ich Marcel eigentlich das erste Mal gesehen habe. Er war schon oft auf unseren Hof gefahren und hatte Julian nach Hause gebracht, ohne dass ich auch nur einen Blick an ihn verschwendete. Für mich war er halt nur der Freund meines Bruders. Erst als dieser ihn auf die Terrasse mitbrachte und mich zu dem Kinobesuch nötigte, nahm ich Marcel wirklich wahr. Und dass zu dieser Zeit auch eher negativ. Schließlich war das Ganze von Julian eingefädelt gewesen und mich interessierte zu dem Zeitpunkt nur Tim.
Auch Marcel scheint seinen Gedanken nachzuhängen. Leise murmelt er, als hätte er die gleichen Gedankengänge: „Ich habe dich das erste Mal im letzten Herbst auf der Bank vor eurem Haus gesehen. Du hattest dich lang darauf ausgestreckt und eine Katze auf dem Bauch und eine auf den Beinen krabbeln gehabt, und du warst ganz in ein Buch vertieft. Du hast nicht mal aufgeschaut, als Julian ausstieg und ich hatte mir mit dem Zurücksetzen und Wegfahren Zeit gelassen, in der Hoffnung, nur einen Blick von dir erhaschen zu können. Aber nichts …“ Er lacht leise.
Ich rühre mich nicht. Letzten Herbst? Das ist schon ewig her und wirklich peinlich, dass ich immer die unnahbare Grazie spielte. Aber Julians Freunde waren bisher für mich immer völlig tabu gewesen.
„Du warst wirklich schwer dazu zu bringen, mir auch nur einen Augenblick zu schenken“, fährt Marcel leise fort. „Ich versuchte mehrere Male länger zu bleiben. Aber Julian ließ mich nicht mal aussteigen. Er war so störrisch. Und dann, auf einmal, wollte er, dass ich mich mit dir treffe.“ Marcel streicht mir sanft über die Wange.
„Für eine kostenfreie Fahrt zum Fußballplatz“, murmele ich fast unhörbar.
„Was?“, fragt er nach.
Doch ich antworte ihm nicht. Ich reibe nur meine Nase an seiner Brust und wechsele etwas die Stellung, damit mein Hals entspannen kann. Aber es tut so gut, bei ihm zu liegen und aus dem Fenster zu schauen. Draußen ist wieder das schönste Sommerwetter.
„Du glaubst gar nicht, wie glücklich ich war, als du nach etlichen Monaten mit mir ins Kino fahren wolltest. Ich habe überhaupt nicht mehr damit gerechnet“, flüstert er, als wäre die Erinnerung an die Zeit schmerzhaft. Er muss durch meine abweisende Haltung wirklich gelitten haben, und das tut mir jetzt wirklich leid. Und er ahnt nicht, dass ich nur mit ihm mitgefahren war, um in Erfahrung zu bringen, ob er und Julian etwas gegen Tim planen. Ich hatte Marcel so falsch eingeschätzt.
„Und dann hast du im Kino den ganzen Popcorneimer allein leergegessen“, sagt er und lacht wieder leise.
„Stimmt ja gar nicht. Ein bisschen habe ich dir schon abgegeben. Und weißt du warum?“
Ich sehe auf und habe das Bild noch so klar vor Augen, als wäre es gestern gewesen.
Er schüttelt den Kopf.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ihm wirklich sagen soll. Ich kann nicht so frei über Gefühle sprechen wie er. Doch ich entscheide mich für die Wahrheit.
„Du hast immer deine Kappe so tief im Gesicht sitzen gehabt und ich hatte keine Ahnung, wie du wirklich aussiehst. Ich war mir sicher, dass du ganz schlimm aussehen musst oder schrecklich schielst.“ Ich grinse ihn frech an. „Und dann nahmst du plötzlich die Kappe ab und hast dir das Haar zurückgestrichen. Das war der Rest des Popcorns wert.“ Ich muss über seinen überraschten Gesichtsausdruck lachen.
„So war das also? Du hast geglaubt, dass ich schiele?“, raunt er gespielt aufgebracht und beugt sich über mich, um mir einen Kuss zu geben. Er sieht mich an und küsst mich erneut, drängender und leidenschaftlicher und ich lege meine Hand in seinen Nacken und ziehe ihn dichter an mich heran, um den Kuss erwidern zu können. Mein Vorsatz vom Vortag, ihn besser etwas auf Abstand zu halten, ist vergessen.
Vor der Tür hören wir Stimmen und ich gebe ihn schnell frei.
Marcel springt aus dem Bett, flitzt zum Stuhl und wirft sich darauf, als die Tür aufgeht.
Ich muss mir ein Lachen verkneifen.
Es ist die Visite und mir fällt ein, was heute auf dem Spiel steht. Hoffnungsvoll sehe ich ihnen entgegen und keine 5 Minuten später verschwindet der ganze Pulk Ärzte wieder, wie eine dunkle Gewitterwolke.
Marcel sieht unglücklich aus. „Nah, toll“, knurrt er aufgebracht: „Ich kann dich also morgen nicht mit nach Hause nehmen. So ein Mist.“
Der Oberarzt hatte beschlossen mich noch einen Tag länger dazubehalten. Ich bin etwas traurig darüber, wenn ich auch, nach dem heutigen Tag, kaum Lust auf mein Zuhause und meine Eltern verspüre.
Marcel kommt wieder an mein Bett und setzt sich auf die Bettkante. Er nimmt meine Hand und küsst meine Fingerspitzen. Aber sein Blick sagt mir, dass er wirklich unglücklich ist.
„Ich habe mit einem Arbeitskollegen die Schicht getauscht, um dich morgen abholen zu können. Aber das wird ja jetzt wohl nichts“, raunt er.
„Oh Mann, du sollst dir doch nicht so viel Stress machen. Meine Eltern holen mich auch ab. Das brauchst du nicht“, erwidere ich. „Und nach dem heutigen blöden Gequatsche von meiner Mutter zieht mich auch nichts nach Hause. Vielleicht ist es besser, wenn ich noch ein wenig hierbleibe.“
Es geht nicht nur um meine Mutter. Dass Tim nicht mehr im Krankenhaus ist, vereinfacht meinen Aufenthalt hier, auch wenn der Gedanke an ihn mir einen Stich versetzt. Er war gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Er fehlt mir jetzt schon schrecklich.
Ich sehe in Marcels Gesicht und er sieht mich seltsam an. „Ich hätte dich schon lieber bei dir Zuhause. Da schmeißt mich wenigstens niemand raus.“
Wieder küsst er meine Fingerspitzen und ich kann nur antworten: „Ich weiß nicht. Mein Vater wird da auch nicht gerade zimperlich sein.“
Marcel sieht auf und seine Augen verengen sich verunsichert. „Meinst du, dein Vater macht Stress, wenn ich bei dir bleibe?“
Dieses ‚bei mir bleiben‘ rumpelt in meinem Kopf. „Kommt drauf an, was du darunter verstehst?“
„Was ich darunter verstehe? Du hast mir gestern Abend gesagt, ich kann bei dir bleiben. Warum sagst du das jetzt so komisch? Willst du das nicht mehr?“, murrt er.
Das war gestern … und weil Tim bei mir war. Jetzt verunsichert mich die Aussicht,