„Ich komme ja bald raus und dann können wir uns sehen, so lange du willst“, versuche ich ihn wieder fröhlich zu stimmen.
Ich verteile heute, Marcel gegenüber, unglaublich überschwänglichen Enthusiasmus für unsere Zukunft. Fast kommt es mir so vor, als wolle ich etwas herausfordern.
Der dankt es mir mit einem unglaublich süßen Lächeln. Mir wird mal wieder bewusst, wie gut er aussieht, und das auch er mein Herz durchaus höherschlagen lässt.
Marcel steht schwerfällig auf, als wäre er an meinem Bett angekettet und bietet Christine an, sie nach Hause zu bringen. Sie nimmt das Angebot freudestrahlend an.
Er gibt mir noch einen Kuss und bittet: „Kann ich dich später auf deinem Handy anrufen?“
Das ist eigentlich verboten und ich weiß nicht mal, ob mein Handy hier ist.
„Ich schau, wo das ist und ob es geht. Dann rufe ich dich an. Aber versprechen kann ich nichts“, antworte ich und werde erneut von diesem Gefühl getrieben, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.
Marcel nickt und folgt Christiane mit mürrischer Miene zur Tür. Die dreht sich noch einmal zu mir um und winkt.
Ich lege meinen Zeigefinger auf den Mund, um sie daran zu erinnern, dass sie nichts Unüberlegtes sagt. Sie zwinkert mir nur zu, grinst und ist verschwunden.
Ich lasse mein Kopfteil absinken und seufze müde. Was war das für ein Tag? Ich kann nur hoffen, dass ich diese Nacht gut schlafen kann, damit ich am nächsten Tag aussehe wie das blühende Leben. Schließlich will ich unbedingt schnellstmöglich nach Hause.
Dann fällt mir mein Handy ein.
Ich suche die Schublade meines Nachtisches ab und muss mich dann doch aus dem Bett quälen, um meinen Schrank zu durchsuchen. Dort finde ich in einer Mülltüte einige der Sachen, die ich bei meiner Einlieferung anhatte, aber kein Handy. Also wird das mit dem Telefonieren wohl nichts.
Das Telefon auf meinem Tisch fällt mir ein und ich frage mich wie das wohl funktioniert. Ich gehe zum Bett zurück und finde in der kleinen Schublade eine riesige Anleitung, wie es aufgeladen wird und wie man dann telefonieren kann. Das Aufladen geht nur an einem Automaten im Untergeschoss bei der Anmeldung.
Nah toll. Dann eben nicht.
Ich lege mich ins Bett und mein schlechtes Gewissen lässt Marcel vor meinem inneren Auge erscheinen, traurig auf sein Handy starrend, wie schon so oft zuvor.
Wie viele Male hatte ich ihm gesagt, dass wir telefonieren werden und es doch nicht getan. Und dennoch steht Marcel unerschütterlich zu mir. Er verlangt nichts weiter als ein wenig meiner Zuneigung. Mir fällt unser gemeinsamer Abend bei ihm zu Hause ein. Ich hatte eine ganze Nacht in seinen Armen verbracht und er hatte mich nicht angerührt. Erst an Morgen hatte er sich ein paar unschuldige Küsse gestohlen. Ich weiß, Tim wäre dazu niemals in der Lage.
Verdammt!
Mir ist völlig klar, dass ich es nicht bis in den untersten Stock schaffen werde, um das Telefon aufzuladen, mal ganz davon abgesehen, dass ich gar kein Geld dabeihabe.
Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, denke ich mir, dass es vielleicht besser ist, Marcel in nichts zu sehr zu bestärken. Also entfällt das Telefonieren erst noch. Schließlich habe ich Tim und die Gefühle von ihm auch in Ketten gelegt. Also ist besser, ich mache Marcel auch nicht zu viel Hoffnung, bevor ich alles klarer sehe.
Mein Abendbrot wird gebracht und ich esse ohne viel Appetit. Dabei schalte ich den Fernseher ein, der sogar funktioniert. Nur die Programmauswahl ist äußerst begrenzt. Doch das ist egal. Hauptsache es flimmert und lässt meinen Gedankenfluss einige Zeit stillstehen.
Einige Dokus und Nachrichten später, beschließe ich das Licht zu löschen und wenigstens einen schnellen Schönheitsschlaf einzuläuten. Dann kann ich zumindest schnell nach Hause.
Vor meinem Fenster weicht das Tageslicht schon der Dämmerung und ich lege mich auf die Seite, um mir das Schauspiel anzusehen. Dabei bemühe ich mich an nichts zu denken. Doch Marcel und Tim huschen in kleinen Abständen immer wieder durch meinen Kopf, der das auch jedes Mal meinem Herz petzt. Ich frage mich, wen ich mir jetzt und hier in mein Bett wünsche, wenn ich eine Wahl hätte - Marcel oder Tim.
Es ist ein Tauziehen der Gefühle und zu meiner Überraschung gewinnt in diesem Augenblick Marcel.
Ich bin beruhigt. Marcel ist gut … sogar sehr gut. Bei ihm kann ich mir sicher sein, dass ich zumindest keinen Schaden nehme, wie bei Tims stürmischen Übergriffen. Seine heute wieder an den Tag gelegte sanfte Art erscheint mir sicherer als Tims drängende und unberechenbare, deren Ursprung undefinierbar ist. Aber Marcel scheint mir auch viel verletzbarer als Tim zu sein.
Erneut bestärkt sich bei mir der Gedanke, Marcel auf keinen Fall zu viel Gefühl entgegenzubringen, was ihn in etwas bestärkt, das sich dann doch nicht erfüllt. Schließlich habe ich mich noch nicht für einen der beiden entschieden.
Ich versuche erneut einzuschlafen und dabei soll mir das Schauspiel der aufsteigenden Nacht vor meinem Fenster helfen. Aber erst als ich in Gedanken doch eine Entscheidung treffe, werde ich ruhiger. Und diese Entscheidung heißt, dass ich mit Marcel erst einmal alles so lasse, wie es ist und mich bei Tim zurückhalte, bis ich weiß, ob es nicht nur Manipulation ist, die uns aufeinander fixiert.
Das Stück Himmel, das ich sehe, verfinstert sich zusehends und damit legen sich auch endlich meine Gedankengänge schlafen. Ich drifte langsam aus dieser Welt in die des Schlafes.
Als ich plötzlich wach werde, ist es draußen dunkel. Die Straßenlaterne erhellt wieder einen Teil meines Zimmers und taucht es in seichte Schatten. Ich liege immer noch auf der Seite, mit Blick auf das Fenster und mir ist unglaublich warm. Langsam fallen meine Augen wieder zu und ich will mich in den unglaublichen Traum zurückfallen lassen, aus dem ich erwacht war. Mein ganzer Körper ist noch von der Sehnsucht erfüllt, die Marcel und Tim in mir entfachten, als sie mich auf einer Tanzfläche zwischen sich einkeilten, mich küssten und ihre Hände über meinen Körper laufen ließen. Plötzlich höre ich eine Stimme nah an meinem Ohr, die mir mit heißem Atem zuflüstert: „Carolin, bitte erschreck nicht.“
Das ist ein weiterer schöner Traum, schießt es mir durch den Kopf und wenn ich mich nicht rühre, werde ich ihn weiter träumen - und träumen ist erlaubt.
Ich kuschele mich wohlig in meine Decke und gebe mich dem neuen Traum hin.
Neben mir drängt sich jemand auf das schmale Bett und dicht an mich heran. Ein Arm schiebt sich von hinten vorsichtig um mich und eine Hand legt sich auf meine Brust. Warmer Atem haucht in mein Haar. Es ist ein unglaubliches Gefühl und lässt einen heißen Wüstenwind über meinen Körper streichen. Diesmal ist es nur einer der beiden, der bei mir ist.
Die Hand gleitet unter den Stoff meines Pyjamas und legt sich auf meine nackte Haut.
Soll ich mich umdrehen und mich an ihn schmiegen? Es ist ein Traum und im Traum kann man sich sogar aussuchen, wen man umarmt.
Tatsächlich überlege ich, wen ich erwarte. Ich glaube, dass es Tims Stimme war, die mir ins Ohr gehaucht hatte. Aber da es ein Traum ist, kann ich mir auch Marcel vorstellen.
Langsam drehe ich mich um und meine Entscheidung ist getroffen. Im wahren Leben habe ich Marcel, also muss ich Tim in meinen Träumen meine Liebe schenken. Das ist, was meine Grübelei Stunden zuvor als die beste momentane Variante erdacht hatte.
Ich schlinge meine Arme um ihn und schmiege mich an seinen Körper, der selbst durch die Decke siedend heiß zu sein scheint. Ich höre, wie er tief einatmet und die Luft anhält.
Mein Kopf will mir etwas aufdrängen, was ich aber nicht wissen will. Ich halte mich daran fest, dass dies nur ein Traum sein kann.
Die Decke rutscht zur Seite, durch irgendetwas gezogen. Lippen treffen meine und ich erwidere den heißen Kuss, spüre die drängende Zunge an meiner und verschmelze mit ihr.