Medea. Ellen Groß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ellen Groß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844255843
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nicht perfekt ist, wird inszeniert. Marielena kleidet sich rasch an, wickelt ein Tuch zum Turban und streift Sandalen über. Beschwingt, hintergründig lächelnd, verlässt sie die Familie.

      Amedeo steht am Hafen, blickt melancholisch ins Endlose. Die Haare sind nicht wie gewohnt zusammengebunden, sie flattern ihm ins Gesicht.

      Seltsam, wie vertraut er sie begrüßt – wo sie sich vor nicht all zu langer Zeit erst begegnet sind.

      Sie schlendern über die Piazzetta, den Salon der Capreser. Abrupt bleibt Amedeo stehen, entgeistert betrachtet er sein Schattenbild in der spiegelblank geputzten Scheibe einer Vitrine ruft affektiert aus: „Mein Gott, wie sehe ich denn aus?“ Er sieht erschöpft aus, denkt Marielena.

      In der Via Camerelle zeigt ihr Amedeo seine neu eröffnete Repräsentanz, weist selbstverliebt auf die Inschrift an der Tür hin – „Amedeo di Positano“, es klingt erhaben aus seinem Mund.

      Ohne zu fragen, lenkt er Marielena in die Bar von Tiberio. Sie trinken eine Limonade. Die Augen der Gäste sind auf ihn gerichtet, außer einem respektvollen „ciao Amedeo“ wagt es keiner, ihn anzusprechen.

      Danach führt er Marielena in sein Appartement, das versteckt in der Ecke einer verwinkelten Gasse liegt.

      Wildkatzen- und Zebradrucke, kombiniert mit floralen Dessins, stechen ins Auge. Selbst im persönlichen Bereich wird deutlich, dass Gestalten Amedeos Leben ist. Die Fenster sind mit Vorhängen verdunkelt, so als wolle er der Welt den Zutritt verwehren. Dennoch wird die Behaglichkeit von einem undeutlichen Summen beeinträchtigt, das anschwillt, wieder verhallt, egal, wo man sich aufhält. Das Gemurmel von vorbeigehenden Passanten auf der Straße ist immer gegenwärtig.

      Je näher Marielena dem Designer kommt, desto imponierender findet sie ihn. Amedeo sitzt ihr gegenüber, schaut ins Nichts, als wäre er allein im Raum. Plötzlich setzt er heftig sein Glas ab. Die Eiswürfel klirren.

      „Das Absurde, cara, ist in mir verankert“, sagt er maliziös lächelnd. „Man muss für alles bezahlen! Oft einen viel zu hohen Preis.“ Marielena wird allmählich bewusst, dass er sie nur eingeladen hat, um ihm die Beichte abzunehmen – doch die Absolution muss er sich bei einer übergeordneteren Stelle holen, denkt sie spöttisch. Ist es Weltflucht, rätselt sie, oder nur ein Klagelied? Eben noch, da draußen auf der Piazza, mimte er den Lässigen. Nun stellt er seine Ohnmacht gegenüber dem Leben theatralisch als Desaster dar.

      „Mein größter Fehler war es, die Regie über mein Leben aus der Hand zu geben und in die eisenharte Faust meiner Mutter zu legen.“ Amedeo setzt nachdenklich eine dunkle Sonnenbrille auf, als wolle er sich abschirmen, spricht leise weiter: „Die Opferrolle war bequem, ich konnte Margareta die Schuld meiner Miseren zuschieben, nur meinen Eigensinn, den habe ich mir bewahrt.“ „Menschen, die ihren Eigenwillen ersticken, werden eng und tatenlos“, bestärkt ihn Marielena etwas hilflos. Sie weiß nicht, wo das Gespräch hinführt und wie sie sich verhalten soll.

      „Meine Mutter akzeptierte sinnlose Zwischenfälle oder Vergnügen, die man hin und wieder braucht, nicht. Sinnlosigkeit ist wie Champagner, kreativ und bejahend.“ Marielena erträgt mit Duldungsstarre seine Bekenntnisse, ahnt immer noch nicht, was das soll. „Es ist Margaretas Eigenart, ich kann sie nicht ändern – man kann aus einer Distel keine Rose machen.“ Amedeo wirkt jetzt eingefallen, wächsern, fast versteinert. Er flüstert: „Meine Art zu leben hat mich zerstört.“ Plötzlich artikuliert er undeutlich, bringt die Sätze durcheinander, es klingt anders als zuvor. Mit aufeinandergepressten Lippen schaut er verzweifelt Marielena an, bringt mühsam hervor: „Ich bin HIV-infiziert!“ Marielena ringt um Fassung. Alles hat sie erwartet, aber das nicht.

      „Ich wollte Freude am Leben und guten Sex haben. Es war eine Episode einer unvergesslichen Nacht, mit viel zu viel Champagner. Jedoch mit dem falschen Kerl“, beendet er das Geständnis.

      Marielena könnte jetzt einwenden, es gibt sehr gute Vorkehrungen, die lebenswichtig- und erhaltend sind. Nur – würde das etwas ändern oder gar ungeschehen machen? Nein! Sie schweigt. Es ist zu spät, um ihm Ratschläge oder gar Belehrungen zu erteilen.

      Amedeo wird jetzt sachlich: „Ein langjähriger Freund in Madrid ist der Arzt meines Vertrauens, er hat sehr schnell den Virus nachgewiesen.“ Marielena vermutet: Amedeo verlegte die ärztliche Behandlung nach Spanien, um so einer medialen Verbreitung in Italien zu entgehen.

      Fast beschwörend betont er, dass er einen Cocktail mit antiviralen Stoffen täglich einnimmt, um den Erreger aufzuhalten. Er erhebt sich, greift vom Regal ein Fläschchen mit einer Kanüle und holt eine für ihn vorgesehene Portion der Flüssigkeit heraus und nimmt sie oral ein.

      „Stell dir vor Marielena, es gibt Menschen, die mit der Infektion schon mehr als zwanzig Jahre leben“, tröstet er sich selbst. „Ich werde mein Leben neu ordnen müssen“, betont er optimistisch. „Die Götter bitte ich um eine Änderung, um ein Ende meiner Mühen, so steht es, glaube ich, bei Agamemnon in der Orestie.“ Amedeo geht jetzt wie ein Tier im Käfig auf und ab. Marielena folgt ihm mit den Augen.

      „Bisher ging alles gut. Doch seit einiger Zeit fühle ich mich elend, es muss etwas geschehen. Deshalb habe ich beschlossen, in den nächsten Wochen eine Kur in Florida zu beginnen. Marielena, wenn nur die Angst nicht wäre, sie ist mein ständiger Begleiter“, seufzt er. „Zum Glück bin ich lebensbejahend, ich glaube, selbst kurz vor dem Abgrund lässt sich so manche Karre noch aus dem Dreck ziehen.“ Er setzt sich neben Marielena, sie ergreift seine Hand, Tränen treten ihm in die Augen: „Marielena, ich will die Konfrontation mit dem Gevatter aufnehmen – will leben.“ Eine innere Kraft scheint seinen Erhaltungstrieb anzustacheln, stellt sie beruhigt fest. Amedeo legt seinen Kopf auf Marielenas Schulter: „Um mein Leben verlängern zu können, würde ich selbst mit dem Herrn der Finsternis einen Pakt schließen.“ Marielena nickt skeptisch: „Wenn man mit diesem Gesellen pokert, mein Lieber, lassen einen die bösen Geister nie mehr los.“ „In meinem Kopf gibt es eine Liste von Dingen, die ich noch vorhabe, bevor ich abtrete“, betont er wie ein trotziges Kind. „Ich werde mein Leben total verändern, auf den Kopf stellen und meiner despotischen Mutter die Stirn bieten.“ Marielena erhebt sich, es ist spät geworden, sie muss nach Hause.

      Silvio wartet sicher schon auf sie. „Du kannst beruhigt sein“, versichert sie ihm, „dieses Gespräch bleibt unter uns.“ Amedeo schaut sie wehmütig an: „Darum hätte ich dich nie gebeten, ich fühle, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

      Marielena ist froh, endlich allein zu sein. Sie geht zum Strand. Die Sonne versinkt am Horizont. In einem Liegestuhl lässt sie sich nieder.

      Die Geister in ihrem Kopf plagen sie. Jetzt nach Hause gehen und lächeln, so, als wäre nichts geschehen? Wie ich das hasse! Unerwartet steht Silvio vor ihr, holt sie heraus aus den trüben Gedanken und dem Liegestuhl. Jetzt weiß sie, was ihr gefehlt hat – seine Nähe.

      Maria, die Wirtschafterin der Amatos, hätte beim Einkaufen Marielena in Begleitung von Amedeo gesehen. Daher wusste Silvio, wo er sie suchen musste. Wenn nicht bei Amedeo – dann mit Gewissheit am Strand. Denn Marielena ist una ragazza di mare. Sie liebt das Meer.

      Silvio nimmt ihr erschöpftes Gesicht in seine Hände. Marielena schmiegt sich an ihn, seine Nähe ist beruhigend. Ihre Augen sind umflort, das Lächeln verkrampft. Sie holt tief Luft, um nicht losheulen zu müssen, kneift die Augen zu, als müsse sie angestrengt nachdenken. Silvio hält sich zurück, wartet ab, was kommt. Sekunden vergehen, dann fragt er nach: „Möchtest du mir erzählen, was du erlebt hast?“ Marielena schüttelt nur traurig den Kopf. Wie tröstet man jemanden, wenn man nicht fragen darf, was ihn bedrückt, resigniert er. Der Nachmittag muss für sie nicht angenehm gewesen sein. Ich werde sie nicht mit meinen Fragen belasten. Im richtigen Moment wird sie mir alles erzählen.

      Das hat sicher etwas mit Amedeo zu tun. Seit seiner Jugend muss ich ihn entweder verteidigen oder beschützen. Was mag jetzt wieder los sein, grübelt Silvio beunruhigt.

      Marielena spürt Silvios Anteilnahme – auch seine Wissbegierde.

      Irgendwann, befürchtet sie, muss ich ihm Amedeos Geheimnis beichten.

      Silvio führt Marielena