«Ja, vielleicht.» Pfiffner zögerte erst und meinte dann: «Schauen wir uns im Haus um.»
Mühelos knackte er das Türschloss. Kurz darauf standen die beiden in der kalten Eingangshalle. Wände und Decke waren von Spinnweben eingekleidet, überall lag Staub und die vertrockneten Pflanzen waren längst tot. Das Innenleben der Villa hinterliess einen rundum traurigen Eindruck. Auch die gerahmten Fotos an den Wänden waren verstaubt. Carla Fuchs erkannte Dr. Wiederkehr beim Angeln, auf einem anderen Bild war er mit seiner Frau Marie im gepflegten Garten zu sehen. Sie sassen an einem verschnörkelten weissen Gartentisch, umgeben von prachtvollen Blumen. Die beiden waren jung. Glücklich sahen sie aus.
Fuchs und Pfiffner schauten sich weiter um. Eine Holztreppe führte nach oben, eine andere nach unten. Carla Fuchs strich sich ihr Deux-Pièce glatt, wie sie es gerne tat, wenn sie ihre Gedanken ordnete. «Unten, da wo es dunkel ist … Das deutet auf den Keller hin.»
Die Treppe ins Untergeschoss knarrte bei jedem Schritt. Es wurde düsterer, Fuchs konnte kaum mehr ihren eigenen Arm erkennen. Sie tasteten sich durch das Dunkel, indem sie mit den Händen der Wand entlang glitten. Die Treppenstufen waren unregelmässig ausgetreten, und ein Geländer wäre kein Luxus gewesen. Sie waren erleichtert, als sie schliesslich unten angelangt waren, in einer Art Vorraum, der wohl gleichzeitig als Abstellkammer diente. Jedenfalls war nur ein kleiner Durchgang frei und Fuchs stiess trotz aller Vorsicht erst an einen Tisch, nachher kollidierte sie mit einem Stuhl. Doch weiter vorne drang unten am Boden ein Lichtschimmer durch: endlich ein Fenster, Licht! Die beiden sahen sich um.
Der Raum war leer - bis auf eine Wanne und zwei leere Holzgestelle.
«Wir sind umsonst hierhergefahren.» Pfiffner hatte genug von der Exkursion ins Niemandsland, genug davon, in fremde Häuser einzubrechen und es war ihm egal, was die Detektivin davon hielt.
Eine Leiche gab es hier nicht, fertig.
«Lassen Sie mich nachdenken. Die Leiche muss irgendwo auf diesem Grundstück sein. Ich kann den Tod riechen.»
«Was immer Sie riechen wollen – hier ist Ihr Riecher definitiv auf dem Holzweg. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, dass es eine Schnapsidee ist, hier nach Lynn oder sonst einer Leiche zu suchen.»
Fuchs war sich sicher und liess sich auch nicht von einem ungeduldigen Dorfpolizisten von ihrem Vorhaben abbringen. Ihre Augen glitten Zentimeter um Zentimeter über die beiden Holzgestelle. Pfiffner dagegen setzte sich betont desinteressiert auf den Wannenrand. Die Wanne war mit Beton gefüllt, blödsinnig schien ihm das, wenn er daran dachte, wie der inzwischen harte Beton einst mühsam herbeigeschafft worden sein musste. Er überlegte, was die Wiederkehrs damit vorgehabt haben mochten, er vermutete, dass daraus ein Kellerboden hätte entstehen sollen. Oder so.
Sekunden vergingen, die sich wie Minuten anfühlten. Bei Pfiffner breitete sich die Langeweile aus; bei Fuchs hingegen war es die Anspannung und die liess sie nicht aufgeben.
Wieder startete der Polizist einen Versuch: «Frau Fuchs, die Leiche von Lynn ist nicht hier. Dr. Wiederkehr hat Sie an der Nase herumgeführt.»
«Um mich an der Nase herumzuführen, lässt er ganz schön viel Geld springen! Nein, das glaube ich nicht.»
«Vielleicht; Sie könnten sich aber auch im Ort geirrt haben. Wie können Sie so sicher sein, dass wir uns hier in der Landschaft befinden, die er beschrieben hat? Und dass es dazu noch diejenige ist, wo Lynns Leiche liegt?»
Darauf antwortete Fuchs nicht. Seine Einwände empfand sie als störend. Ihre Augen suchten nun stattdessen jeden Zentimeter des Bodens ab. Ein Papierstück lag in einer Plastikschale gleich neben der Türe hinter Pfiffner. Fuchs hob das Papier auf und erkannte, dass es ein zusammengefaltetes, vergilbtes Stück einer Zeitung war.
«Ein Stück Zeitung, muss eine ältere sein. Schauen Sie mal – meine Augen sind nicht mehr die besten – bei so wenig Licht schon gar nicht.»
«Es ist eine Zeitung vom 17. November 2000. Ich werde verrückt: das ist das Jahr, in dem Lynn verschwunden ist!»
Während Pfiffner auf das Papier starrte, ging Fuchs unruhig im Raum auf und ab. Abrupt blieb sie vor der Wanne stehen. Lynn war hier in diesem Raum, Fuchs war sich ganz sicher.
«Pfiffner, sagen Sie, würden Sie es für möglich halten, dass Lynn in dieser Betonwanne begraben liegt?»
«Spinnen Sie jetzt völlig?»
«Überlegen Sie. Weswegen soll jemand eine Wanne in einen Keller bringen und sie mit Beton auffüllen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!»
«Genau das habe ich vorhin auch gedacht.»
«Können Sie den Beton aufschlagen?»
«Nein, wie auch?»
Millimeter für Millimeter untersuchten sie die Oberfläche des Betons.
«Verdammt, wir brauchen mehr Licht!» Pfiffner nervte sich über sein Unvermögen, die Details genau erkennen zu können.
«Pfiffner, schauen Sie mal, schauen Sie diese Struktur an… diese Rundung hier, das ist nicht einfach nur Beton. Sie halten mich für bescheuert, ich weiss, aber ich bin überzeugt: Da wurde jemand begraben.»
«Wer legt schon eine Leiche in eine Wanne und füllt diese mit Beton? Aber gut, wenn es unbedingt sein muss, rufe ich Verstärkung. Ich werde mich lächerlich machen, aber was bleibt mir anderes übrig?»
Es dauerte keine halbe Stunde bis die Spurensicherung vor Ort war, doch sie konnten nur wenige Erkenntnisse gewinnen.
«Wir müssen den Beton aufweichen. Dann werden wir Gewissheit haben, ob sich tatsächlich eine Leiche darin befindet. Es könnte sich bei dieser Rundung hier wirklich um Knochen handeln.»
Als die Wanne schliesslich abtransportiert wurde, merkte Fuchs, wie sehr sie die Exkursion angestrengt hatte. Pfiffner bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Auch er war sichtlich bewegt von den Ereignissen.
«Ich habe so meine Zweifel, dass die Spurensicherung eine Leiche aus dem Beton graben wird.»
«Wir werden bald Gewissheit haben», gab ihm Fuchs müde zur Antwort.
«Dann wäre es Dr. Wiederkehr gewesen, der seine Enkelin getötet und in einer Betonwanne verschwinden lassen hat.»
«Seien Sie sich mal nicht so sicher. Warten wir die Ergebnisse ab.»
Einige Stunden später.
«Gut, dass ich Sie erreiche, Frau Fuchs. Sie hatten recht!»
Die Untersuchungsergebnisse waren eingetroffen und Pfiffner hatte die Detektivin aufs Kommissariat eingeladen, um sie zu informieren - soweit dies mit der Geheimhaltungspflicht vereinbar war.
Tatsächlich hatten die Ermittler eine Leiche – vielmehr Skeletteile, diese dafür vollständig – aus dem Beton herauslösen können. Obwohl die Obduktion noch nicht abgeschlossen war, gab es aufschlussreiche Erkenntnisse. Die Beweismittel würden derzeit von der Gerichtsmedizin genauer untersucht. Gesichert war nur, dass es sich bei der Leiche um eine weibliche handelte. Obwohl noch einige chemische und toxikologische Untersuchungen ausstanden, deutete alles darauf hin, dass die Frau erstochen worden war. Mord also. Selbstmord hatten sie ausgeschlossen, zumal Selbstmord durch Erstechen zu den selteneren Vorfällen gehörte. Vor allem aber, da ein Stich die Frau von hinten getroffen hatte. Stiche fanden sich ausserdem am Hals. Das Messer musste scharf geschliffen gewesen sein, die Halswirbel wie der Brustkorb zeigten Schnittverletzungen auf. Die Frau war mit höchster Wahrscheinlichkeit verblutet.
«Was wissen Sie über die Identität der Frau – konnten die Rechtsmediziner Angaben dazu machen?»
«Darauf wollte ich soeben zu sprechen kommen. Die Trinkwanne entpuppte sich als kleine Schatztruhe. Im Beton wurde einiges an Schmuck sicher gestellt – das Gold muss ein Vermögen wert sein. Die Tote hatte um den Hals eine Goldkette mit Anhänger getragen.