»Aye«, stimmte die Frau zu, »das wird er. Es freut mich, dass du uns begleiten willst. Es bedeutet ihm wirklich sehr viel. Wenn wir da draußen sind, ist er manchmal beinahe wieder wie ein richtiger kleiner Junge. Ich meine, er kann natürlich nicht herumrennen, aber trotzdem, vom Kopf her, meine ich.«
»Ich danke dir, dass du dich so gut um ihn kümmerst«, sagte die Prinzessin.
»Nay, sowas brauchste nich«, meinte die Zofe. »Ist meine Arbeit, und die habe ich immer gern gemacht. Und nun sieh zu, dass du zu deinen Tieren kommst, sonst frühstückst du gemeinsam mit deinem Bruder. Die alte Griselda hat genug Lumpenmatsche für beide hochherrschaftlichen Sprösslinge der königlichen Familie.«
»Ich bin schon weg«, erwiderte Ginevra grinsend und machte drei Schritte auf die Tür zu. Als sie fast angekommen war, drehte sie um, war im Nu bei Griselda und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf eine knochige Wange. Dann fuhr sie herum und huschte aus der Tür, bevor die Zofe reagieren konnte.
Während sie zu den Stallungen ging, anfangs ob ihres kindischen Verhaltens mit vor Scham gerötetem Gesicht, atmete sie tief und langsam, um sich wieder zu sammeln. Noch immer spürte sie, wie ob des Besuchs bei Benjamin die Tränen hinter ihren Augen lauerten.
Dein prinzessinnenhaftes Geflenne würde niemandem weiterhelfen, also steck es dir sonst wohin und reiß dich zusammen, du dumme kleine Memme, fauchte sie sich innerlich an. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte sie die Trauer und das Mitleid für ihren Bruder wieder weggeschoben. Die frische Luft und die Arbeit mit den Pferden würden ihr gut tun, wie es immer der Fall war. Vielleicht konnten sie nächste Woche schon ihren ersten gemeinsamen Ausflug machen, und das war etwas, auf das sie sich freute. Solche erfreulichen Dinge waren in ihrem Leben kostbar und selten. Von all den spärlichen Möglichkeiten, die sich ihr hier boten, waren Griselda und ihr Bruder mit die angenehmste Gesellschaft, die sie sich vorstellen konnte.
Der Gedanke an menschliche Gesellschaft brachte sie zwangsläufig auf die bevorstehenden Festlichkeiten. Wieder keine schöne Sache, die da auf sie zukam. Als Kind hatte sie diese Feste immer interessant, spannend und komisch gefunden. Die vielen fremden Lords und Ladys waren stets eine willkommene Abwechslung gewesen. Mit zunehmendem Alter waren allerdings zunehmende Pflichten für sie einhergegangen und ihre Faszination hatte sich schnell zunächst in Widerwillen, dann in Abscheu verwandelt. Zu einem Besuch von Markt und Gauklern war sie kaum noch gekommen. Die Lords und Ladys, einst exotisch und geheimnisvoll, waren bald nicht mehr, als ein lästiges Ärgernis, mit dem sie sich fast zwei Wochen lang auf die eine oder andere Art herumschlagen musste.
Nein, dass sie für das höfische Leben in irgendeiner Form gemacht war, konnte man wahrlich nicht behaupten. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal und ihren Pflichten mit Müh und Not arrangiert, mehr aber auch nicht. Mit Hilfe von Kalkül und einer Entschlossenheit, die ihrem Alter weit vorausgriff, hatte sie sich ihren Platz erkämpft, gegen alle Widerstände und vor allem ihrem unbarmherzigen Vater zum Trotz. Bislang hatte das funktioniert, doch sie fragte sich, wie lange das noch der Fall sein würde. Schon in diesem Jahr mochte es so weit sein, das sich die Dinge änderten. Dass ihre Rolle über die der gastgebenden Tochter hinausging.
Sie war sich wohl bewusst, dass ihre Eltern die bedeutenden Feierlichkeiten früher oder später als Brautschau für sie nutzen würden. Wenn Benjamin nicht in diesem furchtbaren Zustand wäre, vielleicht sogar schon für ihn. Sie konnte nichts tun als zu hoffen, dass der Kelch in diesem Jahr noch einmal an ihr vorüberging. Obgleich auch das natürlich nur ein kurzer Aufschub wäre.
Es ist noch eine Weile bis zu dem dummen Fest hin, schalt sie sich, also hör auf, dich damit verrückt zu machen. Verheiraten will dich heute auch noch niemand, also konzentriere dich auf diesen Morgen, deine Pferde warten.
Sie war auf dem Weg durch den letzten langen Flur, von dem aus sie nach draußen gelangen würde. Sie lenkte ihre Gedanken auf den Wallach und die beiden Stuten und auf die Hunde. Der große braune Bloodhound von Hanston hatte letzte Woche einen Wurf Junge zur Welt gebracht, die ganz bezaubernd waren. Unförmige, flauschige Knäule aus strohfarbenem Fell.
Sie wollte nicht an ihre Zukunft denken. Ebenso wenig wie an die ihres so schrecklich kranken Bruders. Schlimmer als das hier kann es nicht werden, hatte er gesagt. Sie stellte sich vor, wie sie irgendwann an der Seite eines adligen Speichelleckers ihres Vaters lebte. Schlimmer kann es nicht werden.
Als sie hinaus in den Morgen trat, wischte sie sich abwesend mit dem Handrücken über das Gesicht. Es schien etwas zu regnen. Sie war sich sicher, dass sich keine Träne aus ihren Augen geschlichen hatte. Ganz sicher.
6. Kapitel 5
Silvershire
Elias Santos ließ den Blick ebenso gelangweilt wie desinteressiert über die Straße und den umliegenden Wald schweifen. Es war bereits früher Nachmittag, aber das spielte im Grunde keine Rolle. Weder war sein Interesse am Wachdienst zu einer anderen Tageszeit größer, noch hätte sich der breite, gut befestigte Pfad betriebsamer gezeigt. Die Tage des geschäftigen Treibens gehörten für diesen Ort der Vergangenheit an. Das war freilich auch Sinn der Sache, denn das Gebiet war seit einiger Zeit eine verbotene Zone.
Er war jetzt bereits seit mehreren Wochen hier stationiert. Die Ortschaft Silvershire, die sich bis vor wenigen Monaten an diesem Ort befunden hatte, war inzwischen spurlos verschwunden. Der Ort war vor vielen Jahren als Handelsniederlassung gegründet worden. Über diese Verbindung hatte das Königreich seine Beziehungen zu dem befreundeten Volk der Silvalum gepflegt, das im östlich gelegenen Dunkelsilberwald lebte. Der Angriff, mit dem die Siedlung überrannt und die Bevölkerung abgeschlachtet worden war, hatte die Menschen völlig überraschend getroffen. Auch der Grund für die plötzlichen Feindseligkeiten lag im Dunkeln. Danach war eine Abordnung von Tempelrittern und Geistlichen eingetroffen. Diese Verbände hatten den Waldrand zunächst abgesichert. Dann jedoch waren sie bis auf wenige Ausnahmen binnen kürzester Zeit einem unerklärlichen Siechtum zum Opfer gefallen. Es war bis heute unklar, ob es sich um eine Art Krankheit oder ein Gift handelte, dass die Feinde zurückgelassen hatten. Woran die Männer genau gestorben waren, würde wohl auch ein ewiges Geheimnis bleiben. Jedenfalls war man danach gründlicher. Ein massives Aufgebot an Templern, Priestern und Soldaten nahm sich schließlich dem an, was von Silvershire übrig geblieben war. Sie hatten den Ort zerstört, ausgebrannt und geläutert.
Elias kümmerten solche Dinge ohnehin nicht. Er wusste, dass man den Ort niedergebrannt und den Boden gesalzen und umgegraben hatte. Danach war Öl in das Erdreich geschüttet worden und man hatte erneut die Flammen ihren Dienst tun lassen. Jetzt befand sich dort, wo einmal der freundschaftliche Handel zwischen zwei so verschiedenen Völkern geblüht hatte, ein Heerlager. Der Boden, auf dem es stand, war tot und der Rauch, der von den fast fünfhundert hier Gefallenen geblieben war, längst verweht.
Elias war mit neunundzwanzig Jahren einer der ältesten Kameraden, die hier ihren Dienst versahen. Insgesamt waren in der näheren Umgebung inzwischen knapp sechshundert Mann stationiert. Da waren zunächst einige Priester, die sich vorsichtshalber weiterhin im Heerlager aufhielten. Dann die Brüder des Templerordens, die offiziell das Kommando führten. Dazu kamen dutzende von Soldaten des Königs und noch einmal beinahe dreihundertfünfzig weitere in den Farben des Herzogs de Ortega. Gut die Hälfte von ihnen stammten aus den Reihen des Grafen Felipe de Serrat, und zu ihnen gehörte auch Elias. Es wunderte ihn, dass sowohl der Herzog als auch Graf abwesend war, während offenbar ein Marschall der Templer hier den Oberbefehl hatte. Aber was verstand er schon von solchen Dingen. Es kümmerte ihn im Grunde auch einen Dreck, solange er regelmäßig seinen Haferbrei bekam und die Wachablösung pünktlich war.
Elias hatte früh erkannt, dass man bei der Truppe am besten davonkam, wenn man tat, wie einem geheißen, sein Maul hielt und sowohl Ärger wie Verantwortung aus dem Wege ging. Dieser Einstellung verdankt er auch, dass er es, ungeachtet seiner über 15 Jahre im Dienste des Grafen, kaum zu einem höheren Rang gebracht hatte, als ein frisch rekrutierter Bauernlümmel. Er hatte damit kein Problem. Wenn ihm ein Bursche von zwanzig oder noch weniger Lenzen einen Befehl erteilte,