Ramon Gonzales, seit langem und für den Rest seines kurzen Lebens nur »Gonzo« genannt, schenkte dem Fremden seine ganze Aufmerksamkeit. Es war viele Jahr her, dass er sich so sehr auf das, was man ihm sagte, hatte konzentrieren können.
Beim letzten Mal war der Sprecher sein Vater gewesen. Damals, als er noch die Geduld und den Ehrgeiz hatte aufbringen können, dem geistig beschränkten Sohn wenigstens die Grundlagen des Lebens beizubringen. Anfangs sogar noch, welch grausamer Scherz, die einfachsten Handgriffe des Schreinerhandwerkes. Der Vater sah freilich irgendwann ein, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Mit den Jahren wichen Zuneigung und Geduld für seinen minderbemittelten Sohn zunächst dem Mitleid und der Verzweiflung. Dem folgten Zorn und Gewalt. Die Jahre der immer heftiger und reichlicher verabreichten Prügel waren Gonzos erbärmlicher Aufnahmebereitschaft nicht unbedingt zuträglich. Das galt ebenso für seine sozialen Fähigkeiten und seine Kontingenz. Eines Tages hatte ihn sein Vater in einem Wutanfall halb totgeschlagen. Nachdem er sich davon erholte hatte, war er den Truppen des Grafen überlassen worden.
Jetzt aber hing er mit Hingabe an den Lippen dieses fremden Wanderers, der so freundlich mit ihnen sprach. Diese Stimme, irgendetwas im Timbre der Worte, weckte alte, lange verschüttete Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein. Gefühle, die er niemals bewusst wahrgenommen hatte, an die er sich von selbst nicht hätte erinnern können. Es waren Empfindungen von Wärme und Geborgenheit, von der Zuneigung, die ihm ein alter Mann vor langer Zeit geschenkt hatte. Er wusste nicht, wer dieser Mann war, weil sein Großvater gestorben war, als er noch sehr klein gewesen war. Die ersten drei Lebensjahre hatte sich dieser Großvater um ihn gekümmert. Er hatte dem kleinen Ramon, der damals noch ein sehr stilles, ruhiges Baby und später ein sehr stilles, schüchternes Kleinkind war, viele Geschichten erzählt. Das war Jahre bevor aus Ramon der große, dumme Gonzo wurde. Auch darüber hinaus hatte er sich liebevoll um seinen Schützling gekümmert.
Opa hatte nach einem Unfall den linken Arm verloren und war zu sonst nichts mehr nutze. Der kleine Ramon war die letzte große Freude in seinem Leben gewesen. Er hatte den Jungen, den man damals noch für still und schüchtern hielt, anstatt für verblödet und zurückgeblieben, verwöhnt und umsorgt, wie er nur konnte. Dann aber war Opa krank geworden, hatte viel gehustet und war schließlich gestorben.
Eine einzelne Träne lief über die ungeschlachte Wange des Ramon der Gegenwart, der von einigen Gonzo der Riese, von den meisten jedoch Gonzo der Blöde oder Gonzo der Dummfick genannt wurde.
Elias ahnte nichts von dem Aufruhr, der in dem Kameraden herrschte. Es kümmerte ihn auch nicht, war er doch selbst gebannt von dem Fremden und seiner intensiven Präsenz.
»Silvershire wurde angegriffen«, hörte er sich sagen. »Schon vor einigen Wochen. Waren die Waldlinge und es gab keine Überlebenden. Die Ortschaft gibt es nicht mehr, sie wurde abgerissen, niedergebrannt und geläutert.«
Er schüttelte leicht den Kopf und wunderte sich darüber, warum zum Henker er diesem Mann Auskunft gab. »Es tut mir leid, aber hier darf niemand durch«, wiederholte er erneut, »Auf Befehl des Königs weise ich euch an ...«
»Das zu hören trifft mich zutiefst«, unterbrach ihn der dunkle Singsang der Stimme des Wanderers. Sie klang noch immer freundlich, doch jetzt hatte sie auch einen melancholischen Unterton. »Ich hatte sehr liebe Freunde in Silvershire. Die Nachricht ihres Todes auf so plötzliche Weise zu erhalten ist erschütternd. Es wird doch sicher einen Ort geben, an dem sie bestattet wurden.
Elias, mein Junge, du wirst mich doch zu ihren Gräbern führen, damit ich sie für einen Moment gebührlich betrauern kann, nicht wahr? Und Ramon, mein guter, stiller Ramon, du siehst so schrecklich müde aus, du möchtest doch sicher ein wenig schlafen.«
Er hob mit einer fließenden Bewegung die Hand und machte mit seinen langen Fingern eine spielerisch wirkende Geste.
»Ja, Mon sehr müde ist«, sagte Gonzo mit verträumter Stimme. Er sprach undeutlich und seine Worte klangen kindlich verwaschen. »Mon sehr Müde. Schlafen schön. Danke Opa Riko, Mon müde, Mon geht schlafen.«
Elias sah dem großen, breitgebauten Kameraden teilnahmslos nach, als er mit schlurfenden Schritten zum Wachhäuschen ging. Dieser höfliche, zuvorkommende Fremde hatte einen schrecklichen Verlust erlitten. Es war nur recht und billig, dass er ihn zu den Gräbern seiner Freunde führte, damit er Abschied von ihnen nehmen konnte. Sollte sich der blöde Gonzo doch ausruhen. Er war ohnehin zu kaum etwas gut, und zumindest war dann noch jemand hier. Nicht, dass diese dummen Wachposten überhaupt einen Sinn hatten.
Gonzo ging mit etwas unsicheren Schritten zu dem grob zusammengebauten Verschlag, der den Wachen einen rudimentären Schutz vor der Witterung bot. Er zwängte seinen massigen Leib in eine Ecke und setzte sich auf die raue Holzbank. Tränen liefen jetzt über seine Wangen, aber diesmal waren es Tränen des Glücks. Opa Enriko war gar nicht tot, er war wieder da und sprach mit ihm. Genauso liebevoll und geduldig wie damals, als er drei Jahre alt gewesen war, bevor jeder ihn Idiot und Blödian nannte und bevor sein Vater begonnen hatte, ihn blutig zu prügeln. Er hatte Opa ganz vergessen gehabt, aber nun war er wieder bei ihm.
Er zog die Beine an und schmiegte sich, so gut es sein gewaltiger Leib zuließ, in die Ecke des Verschlages. Dann steckte er den linken Daumen in den Mund, schloss die Lippen darum und war sofort eingeschlafen.
Fast augenblicklich bildete sich ein winziges Blutgerinnsel in seinem Herzen. Während Elias sich mit dem Fremden auf den Weg machte, löste es sich. Als die beiden Männer und der riesige schwarze Hund ihren Weg zur Hälfte zurückgelegt hatten, erreichte es Gonzos armes, unterentwickeltes Gehirn. Als Elias seinen letzten Weg beendet hatte, starb Ramon Gonzales mit nicht einmal fünfundzwanzig Jahren an einer Hirnembolie.
»Es ist wirklich sehr freundlich von euch, mir zu helfen, mein Lieber«, hörte Elias die Stimme des zuvorkommenden Fremden. Er war der Einzige, der sie hören konnte, denn sie erklang jetzt allein in seinem Kopf. Es war ihm wichtig, den Mann so schnell wie möglich zu den Gräbern seiner Freunde zu bringen.
Er wusste schließlich nur zu gut, wie furchtbar es war, wenn man Menschen verlor und nicht richtig um sie trauern konnte. Seine kleine Schwester, ein molliges und fröhliches Mädchen von gerade einmal vier Jahren war spurlos verschwunden, als er selbst erst sechs Jahre alt gewesen war. Seine Eltern und die Leute im Dorf hatten wochenlang nach ihr gesucht, aber nie auch nur eine Spur von ihr finden können.
Seine Mutter war über die Gram und durch die Ungewissheit krank geworden und zwei Jahre später gestorben. Da hatte er dann jemanden gehabt, um den er richtig trauern konnte. Freilich gab es auch danach Grund zu trauern, als die dumme Schlampe, die sein Vater kurz darauf heiratete, ihn ständig verprügelte.
Von seiner geliebten Schwester, der kleinem pummeligen Herminia, träumte er in manchen Nächten bis zum heutigen Tage. Dabei war sie seit beinahe zwanzig Jahren verschollen und musste längst tot sein.
Der Fremde, der nun der absolute Herrscher über jeden noch so geheimen Winkel seines innersten Selbst war, hätte ihm sagen können, was mit dem Kind geschehen war.
Der kleine Elias hatte seine jüngere Schwester lieb gehabt, aber er war auch eifersüchtig auf sie gewesen. Was immer sie tat, jeder war entzückt über die Fröhlichkeit, die das pummelige Mädchen mit dem sonnigen Gemüt ausstrahlte. Er selbst war eher ein stiller Typ, der am liebsten für sich allein war. Sie hatten dennoch viel Zeit miteinander verbracht, so auch an diesem einen Tag, welcher der Letzte für Herminia sein sollte.
Sie spielten wie so oft an dem nahen Fluss, nur ein kleines Stück hinter dem elterlichen Haus. Es kam zum Streit, was nicht oft passierte. Es war schwer, sich mit diesem Mädchen zu streiten. Doch heute Morgen waren ihre Eltern wieder besonders von ihr angetan gewesen und hatten Elias erneut links liegen gelassen. Das wiederum passierte oft, im Grunde genommen sogar ständig. So stritten sie, immer heftiger, weil Elias keine Ruhe geben wollte, und schließlich versetzte er seiner Schwester einen Stoß vor die Brust. Es war kein harter Stoß und er wollte ihr auch nicht wirklich weh tun, doch sie war völlig davon überrascht worden. Die liebreizende Herminia