Als sie endlich am späten Abend »Gute Nacht« sagen und zu Bett gehen konnte, denn sie mußte über Nacht bleiben, fühlte sie sich gedrungen, mit dem Schwiegersohne ein paar Worte darüber zu sprechen. Sie sagte, sie begreife sehr wohl, daß er sich bald wieder verheiraten müsse, aber sie ermahnte ihn auch, sich wohl vorzusehen und sich nicht mit der ersten besten zu begnügen.
Da sagte er, sie möchte, aber nur sie allein, mit ihm in sein Zimmer kommen.
Und nun zeigte er ihr, wie da drinnen alles, was Sigrun gehört hatte, zusammengetragen war, alles, sowohl das, was sie von Hause mitgebracht hatte, so wie auch alles, was nachher noch dazugekommen war.
Bilder von ihr in allen Größen waren überall im Zimmer zu sehen, und ihre Bücher standen in der vordersten Reihe auf dem Bücherständer.
Ein Buch war dabei, das die Pröpstin sofort erkannte: ein kleines Andachtsbuch. Ihre Tochter hatte es erhalten, als sie in den Konfirmationsunterricht ging; das lag auf dem Tischchen an seinem Bett.
»Darin lese ich jeden Abend,« sagte der Pfarrer. »In keinem anderen Buche als in diesem.«
Er öffnete das mittlere Schränkchen einer großen Schreibkommode.
Darin hatte er ein paar Schächtelchen aus Elfenbein aufgestellt, die Sigrun als kleines Mädchen zum Geschenk erhalten hatte. Er nahm sie heraus und legte sie liebkosend an seine Wange.
»Die sind ihr sehr lieb gewesen,« sagte er. »Und keine andere Hand als die meine soll sie je berühren. Das alles bekommen die anderen gar nie zu sehen.«
Er zeigte der Pröpstin auch das Bildchen von Stenbroträsk, dessen Anblick Sigrun immer so großen Trost gebracht hatte. Das Bild war in mehrere Bogen Seidenpapier eingewickelt und in ein Tuch eingerollt und lag, wie wenn es ein köstlicher Schatz wäre, im innersten Fach verborgen.
»Andere Augen als die meinen bekommen das nicht zu sehen, liebe Schwiegermutter, das glaube ja nicht.«
Er zeigte ihr auch ein kleines Tuch, das seine Frau ihm gestickt hatte.
»Das muß hier auf dem Tisch liegen, weil Sigrun selbst es hierher gelegt hat,« sagte er. »Aber ich habe noch ein anderes Tuch, das ich darüber breite, wenn die Sonne scheint. Du siehst, es ist gar nicht verschossen.«
Sigrun hatte ihm auch ein Kissen für den Schaukelstuhl genäht; es war mit einer Franse verziert, die aber jetzt an einigen Stellen losgetrennt war. Der Pfarrer hatte versucht, das selbst auszubessern, und die Franse mit grobem Faden und langen Stichen angenäht. Er zeigte der Pröpstin, wie häßlich das sei, aber er habe diese Arbeit eben niemand anders anvertrauen können.
Nun bot sich die Pröpstin an, das Kissen mit auf ihr Zimmer zu nehmen und den kleinen Schaden ordentlich zu flicken. Das erlaubte er auch, aber er drehte und wendete das Kissen verschiedene Male hin und her, ehe er es aus der Hand gab.
Aber das, was ihm das teuerste von allem war: Sigruns zwei glatte Eheringe[1] und noch einen anderen Ring, sowie einige kleine Schmuckstücke, die hatte er in ein kleines gelbes Lederbeutelchen gesteckt.
»Das trage ich bei Tag in der Westentasche,« sagte er, »und in der Nacht liegt es unter meinem Kissen. Davon trenne ich mich nicht, weder bei Tag noch bei Nacht.«
Da wurde die Pröpstin von großem Mitleid erfaßt. Ja, der Kummer nagte an ihm und drohte ihn zu verzehren. Und sie begriff, daß er dagegen ankämpfte, wenn er sich unter Fremden befand, daß er sich Mühe gab, zu sein wie zuvor, es aber eben nicht vermochte; ach, deshalb drangen nun so falsche Töne aus dem Instrument!
Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und winkte ihn zu sich.
»Komm her und setze dich neben mich,« sagte sie mit mütterlich sanfter Stimme. »Und dann sage mir, wie es mit dir steht.«
Da brach er in heftiges Weinen aus.
»Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht, was das mit mir werden soll,« sagte er. »Seit Sigrun mich verlassen hat, kann ich mich nicht mehr im Leben zurechtfinden.«
»Sie ist aus meinen Augen verschwunden,« fuhr er fort. »Aber ich habe nicht das Gefühl, daß sie tot ist. Mir ist zumute, als ob sie von mir gegangen wäre, weil sie sich vor mir fürchtete.
Ich habe sie nicht glücklich machen können, aber der Fehler war der, daß ich sie über alles Maß und alle Grenzen liebte. Ich wollte sie für mich allein haben. Aber ich machte es zu enge um sie und schloß sie ein. Ach, ich habe sie gequält, und dieser Gedanke peinigt mich jetzt über die Maßen. Ach, wenn ich gewußt hätte, daß sie so bald von mir gehen würde, hätte ich mir wohl Zügel angelegt! Was hätte es geschadet, ob ich selbst zugrunde gegangen wäre, wenn nur sie während ihrer kurzen irdischen Laufbahn hätte glücklich sein können!
Man sagt, sie sei an den schwarzen Blattern gestorben. Aber ich kann es nicht glauben, wage jedoch nicht zu fragen, wie es war, als sie von hinnen ging. Ich fürchte, ich werde zu hören bekommen, daß sie es nicht mehr bei mir aushalten konnte und deshalb gestorben sei.«
Die Pröpstin saß schweigend da und ließ ihn klagen. Nichts von allem, was er sagte, verwunderte sie, denn sie, die alt war, hatte noch niemals einen Menschen am Grabe eines geliebten Wesens stehen sehen, ohne daß ihm das Herz von Reue und Gewissensqual zerrissen gewesen wäre.
Ein Brief von Hånger
Ein paar Tage später trat Lotta Hedman mitten am Vormittag in des Pfarrers Studierstube.
Sie hielt einen Brief in der Hand, ihre Augen schauten gerade vor sich hin, ihr Haar war so glattgekämmt, als es überhaupt sein konnte, und auf ihrer Stirn lag ein Leuchten, als ob sich der Himmel über ihr geöffnet und etwas von seinem Strahlenglanz über sie ausgegossen hätte.
Und der Pfarrer sah nicht ohne Erstaunen, daß sie ganz ruhig und mit der Absicht, mit ihm zu reden, hereinkam; denn Lotta Hedman war sonderbar und verwirrt gewesen seit der Nacht, da Sigrun gegangen war. Sie fand keine Ruhe mehr und redete oftmals laut mit sich selbst. Man nahm an, sie habe Gesichte, und wer etwas von ihren Reden verstand, der hörte, daß sie sich um nichts anderes drehten, als um die große Naturverheerung und den Reiter auf dem roten Pferd, um göttliche unberechenbare Zeitmaße und um wilde Tiere und den jammervollen Untergang der ganzen Welt.
Sie wich allen Menschen aus, mehr als notwendig gewesen wäre, und vor niemand war sie so scheu, wie vor ihrem Hausherrn. Er hatte schon oft beobachtet, wie sie weite Umwege machte, um ihm auszuweichen.
Ihre Haare hatten gen Himmel gestanden, ihre Augen waren wild im Kreis herumgefahren, ihre Kleider waren vernachlässigt gewesen, und mit ihrer Arbeit war es gegangen, wie es eben ging.
Wenn die beiden jungen Mädchen ihr in den Weg gekommen waren, hatte sie ihnen strenge Worte, die beinahe wie Drohungen klangen, aus der Heiligen Schrift zugerufen.
Man hatte den Versuch gemacht, den Pfarrer zu veranlassen, sie in ihre Heimat zurückzuschicken; da es aber ohne Zweifel die Trauer um Sigrun war, die sie so quälte, hatte er seine Hand über ihr gehalten und sie in seinem Dienst gelassen.
Heute nun, als er die Veränderung wahrnahm, die mit ihr vorgegangen war, dachte er: »Jetzt ist ihre Trauer zu Ende. Jetzt denkt außer mir in diesem Hause niemand mehr an Sigrun.«
Lotta bat ihn, er möge sie mit Geduld anhören, denn sie habe ihm viel zu sagen.
Und zu seinem großen Erstaunen, denn sie war über alle Maßen ernst und feierlich, begann sie ihm ein Märchen zu erzählen.
»Es war einmal ein Hof, auf dem redliche Bauersleute wohnten,« fing sie an. »Aber ganz nahe bei diesem Hofe war ein Berg, auf dem es Riesen gab. Und die Bäuerin war einmal in dem Hause der Riesen gewesen, um der Riesin bei der Geburt eines Kindes beizustehen. Als sie nun das Kind badete, war ihr ein Tropfen von dem Badewasser ins Auge gespritzt; von diesem Tropfen aber war sie auf dem einen Auge hellsehend geworden, und sie konnte von nun an alles sehen, was die Unterirdischen auf ihrem Hofe taten. Darum kam sie häufig dazu, wenn sie stahlen oder für Vieh und Menschen Fallen stellten, damit