Ich fand Bilder von Männern, die Deinen Namen haben. Das sind Männer von Zürich. Das passt zur Dir, aber sonst gar nichts. Kein Erkennen und keine Erinnerungen werden lebendig, kein Funken springt über.
Ein Man sieht aus wie eine ältere Ausgabe von Dir, wie eine ältere Ausgabe vom siebzehn Jahre alten Gian von Silvaplana, aber die Körperhaltung ist anders und auch in den Augen ist etwas, was mir fremd ist. Nach seinen Lebensdaten könnte es Dein Sohn sein, aber das bist nicht Du.
Es gibt im Internett auch Bilder von einem anderen Mann mit Deinem Namen. Bist Du das? In mir ist nichts als Zweifel. Dieser Mann hat auf dem Bild im Internett die Muskelpakete der Arme vor der Brust verschränkt. Signal: Bis hierhin und nicht weiter! Oder: Na und? Na bitte? Lässige Nonchalance. Er repräsentiert was? Die Ausstrahlung einer Erfolgsstory?
Meine Zweifel werden zur Abwehr und Selbstverteidigung. Das kannst Du nicht sein. Auch wenn siebenundvierzig Jahre vergangen sind, kann ein Mensch sich nicht so verändern, ein Kern bleibt. Die Seele des Menschen liegt in den Augen. Dieser Mann hat fremde Augen.
Auf allen Bildern, die ich von Dir habe, sind Deine Augen ernsthaft, zu ernsthaft für Dein Alter, ruhig, zu ruhig für die Hektik um Dich, fragend. Wonach? Deine Augen sind jung und unschuldig. Du schaust mich nachdenklich an, traurig. Resigniert? Schon mit siebzehn Jahren? Warum?
Du lächelst nicht. Du lächelst niemals. Du flirtest nicht. Du flirtest niemals. Und trotzdem ... Du warst da, immer, jeden Tag, jeden Abend, jede Nacht. Du warst kein Traum, keine Phantasie, Du warst Du. Wusstest Du es? Ich wusste es nicht.
Der Mann im Internett mit Deinem Namen hat spöttische Augen, leicht ironisch und leicht zynisch. Das sind nicht Deine Augen. Du warst niemals zynisch. Zynismus ist ein tödlicher Bumerang: er tötet den anderen, er tötet uns selber. Auch daraus hätte ich wachsen können, vielleicht. Aber auf wie viele Arten müssen wir sterben, um leben zu können?
Es gibt noch andere Daten mit Deinem Namen, Hinweise auf Silvaplana. Das sind Hinweise ohne Bilder und ohne Adresse. Auch stimmen die Namen nicht, da sind Zwischennamen und Doppelnamen, die ich nicht kannte und nicht kenne.
Dann kam der Schock. Ich habe die „Engadiner Post“ gelesen. Da fand ich Deine Todesanzeige.
NEIN!
Das kann nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein. Du warst viel jünger als ich. Du bist zu jung, um zu sterben.
Du warst sechs Jahre, vier Monte und zwei Tage jünger als ich. Darum bin ich vor Dir weggelaufen. In meinem Kopf spukte das abgestandene Klischee von Jokaste. Das passte nicht zu mir. Das passte nicht zu Silvaplana.
In Silvaplana wurde getuschelt. In Silvaplana wurde geklatscht, ich gäbe mich mit kleinen Jungen ab. Die kleinen Jungen, das ward Ihr, das war Dein Freund Peter und das warst Du.
Alle Informationen kamen in Silvaplana in der Bar zu mir. Alle gaben sich in der Bar am Engadinerhof ein Stelldichein. Jeder klatschte mit jedem, jeder klatschte über jeden. Manchmal amüsierte mich der Klatsch, meistens war er mir gleichgültig. Ich hatte kein Begriffsvermögen und keine Kenntnisse von diesem Netzwerk von Verwandtschaften, Freundschaften, Feindschaften, Beziehungen, Boshaftigkeiten und sozialer Abhängigkeit, wie es sich im Klatsch, in den Erzählungen, Informationen, Gerüchten und Skandalen von Silvaplana präsentierte. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich musste arbeiten. Ich war in Silvaplana, um Geld zu verdienen. Alles andere interessierte mich nicht.
Das Dorf interessierte mich nicht. Das Dorf existierte nicht in meiner Vorstellungswelt. Das Oberengadin war für mich ein Bilderbuch mit Geschichten, die man liest und wieder vergisst. Ich habe gleichgültig alles von mir abgeschüttelt, glaubte ich.
Doch die Wirklichkeit lief auf Schritt und Tritt hinter mir her und verfolgte mich. Wir kreieren Wirklichkeit aus unserem Vorstellungsvermögen. Aber unser Vorstellungsvermögen ist ein Wahn, der geboren wurde als Projektion unserer Umwelt. Er entsteht in Abhängigkeit von der Wirklichkeit aller anderen Menschen um uns herum.
V.
Deine Todesanzeige war vom Januar 2012. Da fing ich an zu träumen, da bist Du in meinen Träumen erschienen. Von da an hast Du mich verfolgt, Tag und Nacht. Du bist so gegenwärtig wie eine anwesende Person, wie ein lebender Mensch.
Zuerst, als ich die Daten im Internett fand, verschwanden meine Träume. Der Schmerz schrie in mir. Der Schmerz schreit in mir in der Nacht.
Diese Todesanzeige ist ein elektrischer Schock. Der Schock foltert mich. Ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht verkrampft mein Denken. Wenn diese Verkrampfung sich löst, weine ich. Meine Tränen kristallisieren zu Salz.
Tränen sind die Tropfen, die Lots Frau vergaß, als sie sich umschaute. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie schrie im Schweigen, sie erstarrte im Schweigen.
Ich habe ein ganzes Leben lang versucht, mich umzudrehen und zu sehen und jedes Mal bin ich aufs Neue versteinert. Ich vergaß meine Tränen und meine Seele wurde zur Salzsäule.
Wenn ich versuchte, mich umzudrehen, wenn ich versuchte, mich zu erinnern, sah ich nichts als die zu Salz erstarrten Tränen. Gestorbene Seelen können nicht reden.
Der Schmerz hat keine Worte, er schreit in sich selbst, er schreit nur sich selbst. Der Tod hat keine Worte. Er schweigt in sich selber. Meine Worte verlieren sich im Traum und im Schweigen.
Ich versuche, das Nicht-Mehr-Konkrete ins Konkrete zu transportieren. Ich versuche, im Nicht-Mehr-Wirklichen Wirklichkeit zu finden. Ich versuche, die Realität Deiner Wirklichkeit im Traum zu erfassen.
Der Traum ist das Fenster zu unserer Seele über unser Bewusstsein hinaus. Das Undenkbare können wir nicht denken, aber wir können es träumen.
Wir gehen in unseren Träumen über uns selber hinaus. Unsere Träume sind Sehnsucht und Vision. In unseren Träumen erfahren wir die Ahnung einer anderen Welt.
Wirklichkeit, als das Konkrete haftet nur an sich selbst. Wirklichkeit ist gefangen in den Grenzen ihres eigenen Konkret-Seins. Wirklichkeit träumt sich nicht selbst, Wirklichkeit ist im Traum aufgehoben. Das Konkrete geht nicht über sich selbst hinaus. Das Konkrete ist im Unkonkreten annulliert.
In Silvaplana träumte ich nicht. Ich träumte keine Zukunft, ich suchte kein Darüber-Hinaus. Erst in der Zerstörung meines Seins lernte ich, mich neu zu finden. Erst als mein Leben und meine Lebensgrundlage vernichtet wurden, lernte ich, mich neu zu erfinden. Erst in der Eliminierung meines Seins, im Nicht-Mehr-Sein wurde der Traum meine Rettung, erst hier konnte ich ein neues Sein aus dem Nichts schaffen.
Wenn wir alles haben, sind wir uns selber genug. Wenn wir alles verlieren, müssen wir uns in unserer Vorstellung und Imagination neu träumen. Ich bin ein ganzes Leben lang von einem Tod zum anderen gegangen, um mich immer wieder in meinen Träumen neu zu finden und neu zu erfinden.
Mit Deinem Tod verlor ich Arkadien. Mit Deinem Tod verlor ich meine Jugend. Mit Deinem Tod starb die Hoffnung. Mit Deinem Tod kamst Du zu mir. Nach Deinem Tod sah ich Dich wieder.
Ich versuche, Vergangenes wieder zu finden. Scherbenlese! Das sind Erinnerungen wie Seifenblasen, die mich umgaukeln und zerplatzen. Nur der Schmerz bleibt, die Unmöglichkeit zurück zu gehen, die Unmöglichkeit, Dich wieder zu sehen. Ich finde nichts als Dein Grab.
Du warst an die Berge gebunden. Du warst in den Bergen verhaftet. Du hattest im Engadin Deine Wurzeln. Ich suchte immer das Unmögliche. Ich wollte immer über mich hinauswachsen, ich wollte immer weiter gehen. Ich verlor mich ins Weite, ins Licht, das blendet.
Du lehrtest mich, das Licht vom Engadin zu sehen und zu begreifen. Dieses Licht kreiert Farbpartikeln. Diese Farbpartikel formen sich zu Bildern und Visionen in uns. Das Licht gebiert als Vorstellung und Imagination eine glitzernde Wirklichkeit in uns.
Ich begriff das Licht des Engadins, diese physisch gegebenen Bedingungen, die sich im Cluster meiner Nervensysteme