Ich agierte febril und merkte es nicht. Es vibrierte in mir und ich fühlte es nicht. In meinen Gedanken und Gefühlen war Chaos und ich wusste nicht warum. Ich stand unter Hochspannung. Diese Spannung war die Anziehung zwischen uns. Das war ein Magnetismus, der mich elektrisierte. Wir saßen immer in nächster Nähe zueinander. Wo wir gingen und standen berührten wir einander. Das war so selbstverständlich, als gehörten wir zueinander. Das war so selbstverständlich, als wären wir seit Ewigkeiten zusammen. Das war so selbstverständlich, dass ich mir dessen nicht bewusst war.
Dann kam der Abschied von Silvaplana. Das war der Abschied von Dir. Das war der Schock, dem ich nicht gewachsen war. Du gehörtest zu mir wie die Luft zum Leben. Als Silvaplana hinter mir verschwand, bekam ich keine Luft mehr. Ich war leer und ausgebrannt. Ich versank in der dunklen Wolke einer Depression, ich verschwand in Passivität. Ich ahnte, was Du mir bedeutest hattest, ich wusste, was Du mir bedeutet hast, aber ich konnte nicht handeln.
Der „Coup de foudre“ beim Abschied, das Erkennen wurde für mich zum „Coup de grâce“, zum Todesstoß, zum Erkennen der Unmöglichkeit, diese Liebe zu verwirklichen. Diese Unmöglichkeit lag primär und vor allem in meiner Seele. Ich wagte nicht, Dich zu gewinnen, weil ich Dich nicht verlieren wollte. Damit habe ich mich selber verloren.
Ich ließ Silvaplana hinter mir. Ich würde es nie wieder sehen. Ich verschwand aus Deinem Leben. Ich würde Dich nie wieder sehen. Das wusste ich nicht. Ich war fest bestimmt, zurück zu kommen, und doch bohrte der Schmerz in mir. Etwas tat mir weh, irrational. Ich konnte meine Unruhe nicht fassen, begreifen und benennen.
Ich versuchte, logisch zu denken. Ich räsonierte. Ich stürzte mich niemals ins Ungewisse. Silvaplana war für mich das Ungewisse. Ich musste vernünftig sein. Ich durfte mich auf keinen Unsinn einlassen. Prinzipiell ging ich jedem Risiko aus dem Weg. Das Risiko warst Du. Du warst viel zu jung, um Dich binden zu können.
Ich lief bei jeder Gefahr weg. Du warst eine Gefahr. Darum lief ich vor Dir weg. Doch der Abschied von Dir tat weh. Dieser Schmerz durfte nicht wahr sein. Meine Angst durfte nicht wahr sein. Ich konnte mir keine Angst erlauben. Ich verdrängte. Ich rationalisierte. Ich wurde zum Spielball meiner Rationalisierung. Ich wurde zum Spielball meiner Verdrängung.
Ich räsonierte aus meiner traumatisierten Seele: Ich hatte den Augenblick verpasst, glaubte ich, ich hatte meine Chance verspielt. Meine Abreise erfolgte unter einer falschen Prämisse. Ich hätte mit offenen Karten spielen sollen. Das habe ich nicht getan. Das war ein Fehltritt. Danach beherrschte ich die Situation nicht mehr, danach gab es kein Zurück für mich. Ich kroch nicht zurück, niemals, nicht als Verlierer.
Darum hast Du nichts von mir gehört, keinen Gruß, keine Postkarte, kein Dankeschön. Das war keine Gleichgültigkeit. Das war keine Frivolität. Ich verdrängte Dich, ich verdrängte Silvaplana und einen ganzen Sommer. Ich folgte der Logik meiner verkrüppelten Seele, dumm, naiv, blind, arrogant und zum Schluss resigniert. Ich resignierte in Trauer. Ich wollte Dich vergessen und konnte es nicht, die Erinnerung blieb, sie tat weh. Die Erinnerung schmerzt noch immer. Je tiefer ich darin grabe, desto tiefer geht mein Blue.
II.
Wir waren jeden Tag zusammen, in der Bar, in Silvaplana, in Museen und Ausstellungen in St. Moritz. Wir schlenderten herum, ziellos, zeitlos, weltvergessen. Wir atmeten im gleichen Rhythmus, wir gingen im gleichen Rhythmus, wir tanzten im gleichen Rhythmus, wir schwiegen im gleichen Rhythmus. Wir interessierten uns für die gleichen Dinge. Wir diskutierten und sprachen zusammen, stundenlang, tagelang, nächtelang, wochenlang, von der Schweiz, von den Rätoromanen, vom Engadin, vom Tourismus, von der Schweizer Geschichte und Politik, von Organisationen, Verfassungen, von Eurem Militärdienst und von den täglichen Problemen, die ihr bewältigen musstet.
Du erzähltest von Dir und von Deinem Leben. Aber wir sprachen nicht von mir und meinem Leben. Mein Leben existierte in Silvaplana nicht, meine Vergangenheit existierte nicht, nicht für mich, nicht für Euch, für niemanden.
Du warst jung. Du warst zurückhaltend. Du warst diskret. Du fragtest mich nicht. Niemand fragte mich.
Warum dann sprechen? Worüber? Mein Leben war kein Gesprächsthema, nicht für mich. Ich hatte kein Leben, über das es sich zu sprechen lohnte, glaubte ich.
Ich lebte, um zu überleben. Wie? Danach fragte keiner. Darum kümmerte sich keiner. Die Menschen wechselten, denen ich begegnete. Die Umstände wechselten, die ich bewältigen musste. Die Orte wechselten, wo ich überleben konnte. Ich war hier, ich war da, ich war nirgendwo. Eine Episode nach der anderen verschwand hinter mir. Was blieb, war Vergessen.
Schmerzen? Hunger? Einsamkeit? Tod? Das hat er nie gegeben. Ich drehte mich um und vergaß, einen Tag nach dem anderen, eine Episode nach der anderen, einen Menschen nach dem anderen. Die Menschen, die mich verließen und die ich verlassen musste, schob ich gleichgültig zur Seite, ich vergaß. Die Menschen, die mich schlugen, die mich hungern ließen und die mich ausnutzten, lies ich hinter mir liegen. Diese Menschen hatte es für mich niemals gegeben. Das Hinter-mir-Lassen, das Vergessen wurde zur Gewohnheit, es wurde Routine. Auch das Engadin habe ich hinter mir gelassen und vergessen, glaubte ich. Ich habe mich getäuscht, das Verdrängte kam wieder, in der Nacht als Traum, Vision und Phantasmagorie.
In Silvaplana hatte ich keine Zeit, in Nostalgien zu verweilen. Ich lebte im Hier und Heute, nicht im Gestern. Ich verspürte kein Verlangen, in Erinnerungen zu schwelgen. Erinnerungen schmerzten. Ich vergaß einen Tag nach dem anderen. Ich vergaß das Gestern, ich vergaß jedes Gestern, je schneller, umso besser. Ich schüttelte meine Vergangenheit von mir ab, ich schüttelte jede Vergangenheit von mir ab.
Ein Mensch nach dem anderen verschwand aus meinem Leben. Mit jedem Menschen verschwand ein Teil meines gelebten Lebens. Kein Mensch interessierte sich dafür. Darum interessierte es mich nicht. Keiner fragte mich danach. Warum dann sprechen? Mit wem? Über was?
Ich lebte von einem Tag zum anderen. Ich überlebte. Ich überlebte eine Kindheit, die keine war. Ich überlebte eine Jugend, die keine war. Ich lebte trotz alledem. Ich lebte im Trotz. Ich hatte nur meinen Trotz. Ich handelte im Trotz und aus dem Trotz heraus: Wenn mich alle Menschen wie einen Gegenstand behandelten, ausnutzten und wegschmissen, konnte auch ich alle Menschen wegschmeißen. Wenn mich alle Menschen verließen, konnte auch ich alle Menschen verlassen.
Kinder sind die schwächsten Glieder einer Gesellschaft. Kinder, die alleine überleben müssen, werden von allen ausgenutzt, sie werden von allen herumgeschubst und herumgestoßen.
Ich wurde herumgeschubst. Das akzeptierte ich nicht. Ich lernte, dagegen zu kämpfen. Ich wurde von allen verlassen. Das akzeptierte ich nicht. Ich ließ alle und alles hinter mir. Ich wurde geschlagen. Das akzeptierte ich nicht, ich wehrte mich. Meine Mutter schrie und wütete. Das akzeptierte ich nicht, ich drehte mich um, ließ sie schreien und ging weg. Sie versuchte zweimal, mich umzubringen. Das akzeptierte ich nicht, ich schob sie, ich schob die Ereignisse als Alpträume zur Seite. Ich vergaß und verdrängte. Ich kämpfte weiter, alleine, trotz alledem.
Ich verlor den Kontakt mit meiner Mutter. Ihren Mann akzeptierte ich nicht. Ich sprach nicht mit ihm. Ich gab ihm nicht die Hand. Ich grüßte ihn nicht. Ich setzte mich nicht an denselben Tisch mit ihm. Ich wollte lieber hungern. Meine Mutter schrie mich an. Meine Mutter tobte. Meine Mutter prügelte mich. Bei meiner Mutter durfte ich mich nicht mehr sehen lassen. Ich lebte trotz alledem.
Ich verlor den Kontakt mit meinem Vater. Mein Vater heiratete zum dritten Mal. Seine neue Frau wollte mich nicht in ihrem Haus sehen. Sie hatte genug Probleme mit sich selber. Dann eben nicht, ich hatte genug Probleme mit mir selber. Meine Eltern lebten ihr eigenes Leben. Ich lebte mein eigenes Leben.
Ich war alleine für mich verantwortlich. Das war mein Status quo als ich nach Silvaplana kam. Ich versorgte mich alleine. Ich war unabhängig. Ich brauchte bei niemanden zu betteln. Ich fühlte mich stark. Ich war niemals schwach, glaubte ich. Ich fühlte mich allmächtig. Ich wurde arrogant. Diese Arroganz war blind. Ein