»Danke! Ich mag nichts.«
»Warum nicht?«
»Ich sehe und rieche schon von weitem, daß es sauer ist.«
»Das rieche ich nicht; aber es ist eine Schwabe drin ertrunken. Siehst du sie nicht?«
»Ach, darum deine große, aufopferungsvolle Dankbarkeit?!«
»Ja. Sogar die Schwabe wollte ich dir allein lassen. Komm, wollen gehen!«
Wir banden unser Paket wieder zusammen und gingen; nach kurzer Zeit war Falkenau hinter
uns verschwunden.
Es hatte nicht, wie Franzl gestern abend meinte, die ganze Nacht hindurch geschneit, und so
gab es für uns, wenigstens zunächst, eine ziemlich gut gebahnte Straße. Den ungefähr eine
Meile weiten Weg bis nach Gossengrün legten wir in zwei Stunden zurück. Auf unsere
Erkundigung dort erfuhren wir, allerdings erst nach langem und sorgfältigem Umherfragen,
daß die Gesuchten gestern um die Mittagszeit hier angekommen und dann von einem
mitleidigen Viehhändler in seinem Wagen mit nach Bleistadt genommen worden waren.
Unser Weg ging also nun nach diesem Orte, den wir noch am Vormittage erreichten, obwohl
der Schnee hier schon viel höher als in der Falkenauer Gegend lag.
Bleistadt ist nicht groß; darum fanden wir das Schenkhaus sehr bald, in welchem der Händler
mit seinem Schlitten angehalten hatte; ja, wir fanden ihn sogar selber, denn er hatte hier
übernachtet und war frühzeitig nach Heinrichsgrün gefahren und soeben von da
zurückgekommen. Er sagte uns, daß die Frau ein wahrer Engel an Aufmerksamkeit und
Hingebung gegen ihren alten Vater sei, der aber wohl nicht mehr lange leben werde, denn er
hatte sich selbst im Schlitten kaum auf dem engen Sitze aufrecht erhalten können. Von ihrer
Einkehr bei Franzl hatte sie nichts gesagt.
»Ich bin aus Graslitz,« fuhr er fort, »und hätte sie ganz gern bis dorthin mitgenommen, aber
ich mußte hier bleiben, um heut nach Heinrichsgrün zu fahren und die nächste Nacht in
Neukirchen zu bleiben. Als sie erfuhr, daß ich alle Leute in Graslitz kenne, fragte sie mich
nach einem Instrumentenmacher, der mit ihrem Mann verwandt ist. Sie dachte, bei ihm
bleiben zu können, weil sie ihn für wohlhabend hielt; leider konnte ich ihr da keine gute
Auskunft geben, denn er war nur Gehilfe und wendete seinen ganzen Verdienst dem
Branntwein zu. Wegen dieser seiner Trunksucht fand er nirgends mehr Arbeit und hat sich vor
ungefähr einem Jahre auf und davon gemacht, wohin, das weiß ich nicht.«
»Ist die Frau von hier weiter?«
»Ja. Der Wirt wollte sie nicht umsonst behalten, und Geld hatte sie nicht; sie dachte,
unterwegs eher und leichter gute, mitleidige Leute zu finden, und es ist auch wahr, daß
einsam wohnende Menschen gastlicher sind als Bewohner von Orten, wo es Gasthäuser
giebt.«
»Da ihre Hoffnung auf den Verwandten nun zunichte ist, hat es eigentlich gar keinen Zweck
mehr für sie, nach Graslitz zu gehen; sie ist aber wohl trotzdem hin?«
»Ja.«
»Auf dem gewöhnlichen Wege?«
»Sie wollte sich immer an der Zwoda aufwärts halten; weiter weiß ich nichts. Es ist ein
wahres Herzeleid, solche Leute zu sehen! Sie wollen sich nach Bremen durchbetteln; ob sie
aber hinkommen, das weiß man nicht; der Alte auf keinen Fall; ich dachte jeden Augenblick,
er werde mir im Schlitten sterben. Sie sprach davon, daß sie Schiffskarten hätte; aber wenn es
so langsam weitergeht wie jetzt, werden die wohl abgelaufen sein, ehe sie benützt werden
können.«
Diese Bemerkung machte mich noch besorgter um die Frau, als ich bis jetzt gewesen war. Ich
nahm, ohne dem Händler zu sagen, was es war, das Couvert aus der Tasche und öffnete es;
ich glaubte nicht, ein Unrecht damit zu begehen. Richtig! Die bezahlten Schiffslegitimationen
waren von einem New-Yorker Agenten des damals erst ein Jahr bestehenden Bremer Lloyd
ausgestellt und die Fahrt war für die ersten Tage des Februar festgesetzt. Die Frau hatte das
nicht lesen können, weil der Text englisch war.
Wir machten uns wieder auf den Weg, welcher immer am Flüßchen aufwärts führte und
ziemlich beschwerlich war, weil der Schnee stellenweise knietief lag. Überall wo es
menschliche Wohnungen gab oder wenn uns jemand begegnete, fragten wir und erfuhren so,
daß die armen Leute mehreremal um Nachtlager gebeten hatten, aber immer abgewiesen
worden waren. Die Bewohner dieser Gegend sind oder waren besonders damals selbst so arm,
daß sie, zumal im Winter, kaum genug trockenes Brot für sich selber hatten.
Gegen Abend sahen wir eine kleine, ärmliche, halb verfallene Schneidemühle vor uns liegen,
deren ziemlich defektes Räderwerk eingefroren war. Das sah schon von außen ganz wie
Hunger aus. Die kaum noch in den Rahmen hängenden Fenster hatten Risse und Löcher,
welche mit Papier zugeklebt waren. Ein alter, abgemagerter Hund fuhr, als wir uns näherten,
unter einer tiefen Schneewehe, wo er sein Lager hatte, hervor und vollführte mit seiner
heiseren Stimme einen Lärm, auf welchen die obere Hälfte der querteiligen Thür geöffnet
wurde. Das Gesicht einer alten, wie es schien, abgehärmten Frau war zu sehen.
»Gott zum Gruß, Mütterchen!« sagte ich.
»Grüß Gott,« antwortete sie. »Was wollen Sie?«
»Sind Sie die Müllerin?«
»Nein; die Mühle geht schon längst nicht mehr, denn ihr ist zwar nicht das Wasser aber das
Geld ausgegangen. Ich bin nachher eingezogen, weil das Logis nichts kostet. Ich bin nämlich
die Botenfrau zwischen Bleistadt und Graslitz.«
»Wir suchen einen alten Mann, eine Frau und einen Knaben, welche gestern in Bleistadt
waren und nach Graslitz wollten.«
»Du lieber Gott, die, die suchen Sie? Da kommen Sie zu einer schlimmen Zeit! Mit dem
Alten können Sie nicht reden, denn er liegt im Sterben. Was wollen Sie denn von der Frau?«
»Wir bringen ihr etwas, was sie verloren hat.«
»Da kommen Sie herein! Schön werden Sie es nicht bei mir finden, sondern traurig, sehr
traurig.«
Sie öffnete nun auch die untere Hälfte der Thür, und wir traten in einen engen, vollständig
leeren Flur, dessen Wände im Zerbröckeln waren. Durch eine höchst mangelhaft schließende
Thür kamen wir in die Stube, für welche aber der Ausdruck Stall in ihrem jetzigen Zustande
eine unverdiente Ehrung gewesen wäre; ich wenigstens hätte weder Pferd noch Kuh hier
unterbringen mögen!