noch ziemlich hell war, ganz dunkeln Raum zur Not erleuchtete. Von Wärme war nur wenig
zu bemerken. Neben dem Herde ein paar Töpfe und Teller an der bloßen Erde, denn eine
Diele gab es nicht. Am Fenster stand ein alter Tisch mit zwei schemelartigen Stühlen, und der
Thür gegenüber gab es eine Lagerstätte, welche unsere Augen sofort auf sich zog. Sie bestand
aus einem trockenen Laubhaufen, über den ein gewiß schon jahrelang nicht mehr weißes
Betttuch gebreitet war. Einige zusammengerollte Fetzen bildeten das Kopfkissen, und die
Zudecke präsentierte sich uns als die Reste eines haarlosen Männerpelzes. Auf diesem Bette
lag der Greis, zu dessen Füßen der Knabe hockte, während die Frau am oberen Ende auf der
Erde kniete und den Kopf ihres Vaters durch ihren untergeschobenen Arm stützte. Sie war so
in ihren Schmerz versunken, daß sie sich gar nicht nach uns umblickte. Der Knabe erkannte
uns und nickte uns traurig zu. Der Greis lag bewegungslos lang ausgestreckt; ob er die Augen
offen hatte, konnten wir bei dem ungewissen Scheine des Feuers nicht erkennen; er sah so
aus, als ob er schon tot sei.
Der Ort, wo ein Mensch im Verscheiden liegt, ist eine heilige Stätte, und wenn er auch der
allerärmlichste der ganzen Erde wäre. Wir wagten nicht, laut Atem zu holen, und schlichen
uns auf den Wink der Botenfrau zu den beiden Schemeln, um uns geräuschlos niederzusetzen.
Sie folgte uns und flüsterte uns zu:
»Nicht wahr, es ist sehr ärmlich bei mir? Mein Schwiegersohn ist ein schlimmer Mann, der
mich, seit meine Tochter tot ist, nicht mehr bei sich leidet; da habe ich mich hierher gemacht.
Ich bekomme von der Gemeinde monatlich vierzig Kreuzer Almosengeld, und was ich sonst
gegen den Hunger brauche, verdiene ich mir durch Botengänge. Sparen oder anschaffen kann
man da aber nichts!«
»Seit wann sind diese Fremden hier?« fragte ich ebenso leise, wie sie gesprochen hatte.
»Seit Mittag. Sie haben die ganze Nacht im Schnee zugebracht, und das muß der Alte nun mit
dem Leben bezahlen. Sie baten um ein Plätzchen zum Ausruhen für ihn; da konnte ich nicht
nein sagen.«
»Haben sie gegessen?«
»Nein, denn sie haben nichts, und ich habe heut auch nichts mehr, als nur ein Brot, welches
auch schon halb alle ist. Horch!«
Der Sterbende bewegte sich und sprach halblaut abgebrochene Worte vor sich hin:
»Mich friert – – ich will sterben! – – Legt mich ins Himmelbett, und – – deckt mich mit der
weichen Seidendecke zu! – – – Wenn ich dann tot bin, unterschreibt nichts, nichts – – sonst
bringt er euch noch an den Bettelstab!«
Der Knabe schluchzte zum Erbarmen; seine Mutter regte sich nicht; sie blieb stumm, stumm,
wie der Schmerz in seiner größten Tiefe immer ist. Man hörte das Knistern der Flamme,
weiter nichts. Nach einer längeren Weile begann der Alte wieder:
»Selig – selig ist, wer bis ans Ende – – an die – – die ewge Liebe glaubt – – –! Suchen – –
suchen – – – im Verscheiden – – Erlösungsstern – – zur Herrlichkeit des Herrn – – –!«
Dann stieß er plötzlich einen überlauten Schrei aus, richtete sich in die Höhe, deutete mit der
Hand wie in weite Ferne und rief in angstvoller Hast:
»Er schießt, er schießt – – – spring weg, spring weg; er schießt!«
Dann sank er wieder nieder. Nun ging sein Atem laut röchelnd, langsamer, immer langsamer,
bis ich glaubte, er sei ganz weggeblieben; da aber hörte ich ihn noch einmal mit ruhiger,
deutlicher Stimme sagen:
»Ich gehe jetzt, meine Tochter; aber nur mein Körper scheidet; meine Seele wird bei dir
bleiben und dich behüten immerdar. Ich segne dich; ich segne euch. Der Herr sei euer Heil
und euer Schirm! An seinem Throne werde ich unaufhörlich für euch beten. Habt Dank – – –
lebt wohl – – – lebt wohl, ihr lieben – – lieben – – lieben – – –!«
Das letzte Wort erstarb zur Unhörbarkeit. Es wurde still, stiller als vorher. Nicht einmal das
Feuer schien knistern zu dürfen. Da wendete die Frau sich ihrem Sohne zu und sagte in einem
Tone, als ob ihr Leben nun auch zu Ende gehe:
»Stefan, dein Großvater ist gestorben; mir und dir ist er gestorben. Weine du; ich kann es
nicht!«
Nun erst, nachdem sie sich dem Knaben zugewendet hatte, sah sie uns. Sie stand langsam auf,
kam wie eine nur die Füße bewegende Statue auf uns zu und sagte mit seelenloser Stimme:
»Die Gymnasiasten von vorgestern. Was wollen Sie?«
»Sie haben Ihre Schiffskarte in Falkenau liegen lassen, und wir bringen sie Ihnen nach,«
antwortete ich.
Ihre Augen waren nicht auf mich, sondern wie durch die Wand hindurchgerichtet, und es
klang, als ob sie zu einem Abwesenden spreche:
»Danke; legen Sie sie hier auf den Tisch!«
»Ihre Gültigkeit läuft Anfangs Februar ab,« fuhr ich fort, da ich es trotz der dazu ganz
unpassenden Situation für meine Pflicht hielt, ihr diese Mitteilung zu machen. »Nun Ihr Vater
gestorben ist, wird Ihnen der Bremer Lloyd den Betrag der auf seinen Namen lautenden Karte
zurückzahlen, denn bei Todesfällen verfällt die Summe nicht.«
»Ich weiß nicht, ob ich bis nach Bremen komme,« erklang es kalt und ohne Ton.
»Sie müssen hin. Ein Freund von Ihnen hat mir das für Sie gegeben; stecken Sie es ein!«
Es war, als ob ich gar nicht anders könnte, ich mußte diese Worte sagen und meinen
»Geldschrank« unter der Weste hervorziehen, um ihn ihr zu geben. Sie steckte den Beutel ein,
ohne ihn anzusehen, ja, ohne ihn, wie es schien, eigentlich in der Hand zu fühlen.
»Geben Sie das aber ja nicht für das Begräbnis her!« fügte ich hinzu. »Sie brauchen es zum
Fahren unterwegs.«
»Ich werde es verstecken,« nickte sie wie ein Automat.
»Und hier in diesem Paket ist für Sie etwas zu essen, was ich mitgebracht habe. Gute Nacht,
Frau Wagner!«
»Gute Nacht!«
Ich gab dem Knaben die Hand und ging mit Carpio hinaus; die Botenfrau folgte uns. Draußen
fragte ich sie:
»Haben Sie alles gehört, was ich zu der Frau gesagt habe?«
»Alles,« nickte sie; »jedes Wort.«
»Sagen Sie ihr alles, aber auch alles wieder, denn sie scheint nicht draufgehört zu haben! Sie
muß den Beutel verstecken, daß man ihr das Geld nicht nimmt, welches sie zur Reise braucht.