niederfallen. Da schloß er, ohne uns zu beachten, die tiefliegenden Augen und holte in einer
Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der
Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der
andern Hand die zum Erschrecken hagere Wange. Beide hatten, der eine vor Ermüdung und
der andere aus kindlicher Unkenntnis, keinen Gruß gesagt. Die Frau aber grüßte, legte das
Bündel, welches sie trug, neben dem Alten nieder, faltete die Hände und fragte in flehendem
Tone:
»Haben Sie vielleicht einen Platz für uns im Stalle?«
»Bettelvolk, das sich verstellt und nichts thun als vielleicht nur stehlen will,« flüsterte die
Wirtin ihrem Manne zu.
Sie war nicht so gutmütig wie er, der gar nicht auf diese Worte hörte, sondern die drei
Personen mit mitleidigen Augen betrachtete und sich dann erkundigte:
»Warum im Stalle und nicht im Bett?«
»Weil wir nicht bezahlen können,« antwortete die Fremde mit einem schweren Seufzer.
»Warum kommt ihr da zu uns? Hier ist keine Herberge für Handwerksburschen und Leute,
wie ihr seid!« fiel die Wirtin schnell ein.
»Wir haben nach der Herberge gefragt, aber wir konnten nicht weiter; mein Vater fiel vor
Müdigkeit um.«
Die Wirtin wollte noch etwas sagen, aber Franzl winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und
forderte die Fremde auf, ihm die Legitimation zu zeigen. Sie zog einen sorgfältig in ein Tuch
gewickelten Paß hervor, den sie dem Wirte gab. Er las ihn, schüttelte den Kopf, musterte die
drei Personen noch einmal und sagte dann im Tone des Erstaunens:
»So weit kommt ihr her – in diesem Schnee und dieser Kälte! Und nach Amerika wollt ihr –
nach Amerika, in diesen Kleidern und ohne Geld! Entweder ist das eine Lüge, oder seid ihr
nicht bei Troste!«
»Es ist keine Lüge,« versicherte sie; »der Paß beweist es ja.«
»Aber wer nach Amerika will, muß Geld haben! Die Fahrt auf dem Schiffe hat kein Mensch
umsonst!«
»Mein Mann hat uns die Schiffskarten geschickt.«
»Ihr Mann? Ist der schon drüben?«
»Ja. Er ist vor drei Jahren hinüber und hat gearbeitet und gespart, bis er uns die Schiffskarten
schicken konnte.«
»Nur die Karten? Man braucht doch auch Geld, um bis nach der Hafenstadt zu kommen!«
»Das hatten wir, denn wir haben alles, was wir besaßen, verkauft. Viel war es freilich nicht,
denn wir sind arme Leute, und die Käufer waren ebenso arm wie wir; aber bis nach Bremen
hätte es gereicht, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. Er bekam einen Blutsturz, und
es dauerte fast zwei Monate, ehe wir weiterkonnten; da ist das bißchen Reisegeld alle
geworden.«
»Aber, mein Gott, da hättet ihr doch nicht weiter-, sondern wieder heimgehen sollen!«
»Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlecht
gegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.«
»Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen
Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat,
um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?«
»Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.«
»Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da
auf dem Stuhle sitzt!«
»Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir
haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich
behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.«
»Nach Graslitz wollt ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!«
»Oder auch sie sind nicht verrückt,« sagte seine Frau. »Man soll nur Mitleid haben. Der Paß
wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern
wollen, das ist eine andere Frage.«
Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Couvert aus dem Tuche, gab es dem
Wirte und schluchzte:
»Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen,
so machen Sie dieses Couvert auf; die Schiffskarten liegen drin!«
»Nein, behalten Sie es nur; ich brauch' es nicht zu sehen,« sagte Franzl, den die Thränen der
Frau rührten. »Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger
haben. Setzt euch dort an den Tisch!«
Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die
Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche.
Als sie hinaus war, raunte uns Franzl in vertraulichem Tone zu:
»Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend
Weiber hat; annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch
nicht weisen.«
Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und thaten ungesäumt, was wir, die wir hier
nichts zu sagen hatten, thun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn
trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit
wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte.
Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzl
wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Thür
unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten
Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in
besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich
der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem
verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten. daß die Wirtin der Küche
durch eine zweite Thür Valet sagte. Dann kam Franzl strahlenden Gesichtes wieder.
»Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weiter geblasen wird,« gestand er uns, die wir nicht
wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. »Inzwischen können wir hier machen, was wir
wollen. Nun passen Sie einmal auf!«
Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die
ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er