Die Menschen, vor allem jene, die mit diesen Verhältnissen im Chynztal groß wurden, haben sich also an das Vorhandensein eines Drachen gewöhnt. Nicht oft wurde man seiner ansichtig, obwohl er doch 15 und einen halben Fuß hoch war. Zwischen den Baumriesen der damaligen Zeit war da aber immer noch gut, sich zu verstecken; auch bei solcher Größe. Kam man ihm dann doch einmal auf Rufweite nahe, so fiel man nicht mehr in Ohnmacht, so wie früher. Man grüßte artig ehrerbietig und ging seiner Wege. (Ein bedenkliches Gefühl, war wohl trotzdem immer mit dabei.)
Mit Halblingen und Zwergen kam man dann doch schon eher zurecht. Zwar konnte man nicht in die Dörfer der Halblinge, doch das sah man ein. Das Missverhältnis in den Größen zwang die Menschen einfach, draußen zu bleiben. Nur allzu leicht wäre an den kleinen Hütten der nur etwas über drei Fuß großen Wesen ein Schaden geschehen. Doch draußen auf dem Feld und im Wald sah man die Halben gerne. Immer gaben sie sachkundigen Rat. Stets gab es gute Ernten, wenn sich so ein kleiner Meistergärtner um Probleme kümmerte. Eifersüchtig wurden die Weisheiten der Halben im Chynzychtal gehütet. Die Erfolge in Ackerbau und Waldwirtschaft wollte man nicht mit anderen Bauern im weiteren Umland außerhalb des Tales teilen.
Auch mit den etwa einen Fuß größeren Zwergen gab es nur wenig Schwierigkeiten und falls doch, konnten die Zwerge solche Zwistigkeiten schnell beilegen. Sie waren halt die Stärkeren, aber davon machte man herzlich wenig Gebrauch. Dies war vom König verboten und man hielt sich daran, soweit möglich. Mancher Halbwüchsige unter den Menschen musste ab und an doch mal sein Mütchen kühlen. Blaue Flecke und schmerzende Knochen aber waren gute Lehrmeister. Das gab es sogar schon, als die Zwerge vor sehr langer Zeit noch von einem Großkönig regiert wurden und das gemeinsame Reich bis weit über den Wettergau hinaus reichte.
Untereinander hat sich bei den Menschen nichts geändert. Mord und Totschlag, Lug und Trug, Raub und Habgier waren nicht aus der Welt. Man kümmerte sich einen Dreck um die große Weltpolitik, das war Sache des Königs Chlothar II. Selbst die hier ansässigen Grafen hielten sich da möglichst heraus.
Graf Guntbert von Lanczengeseze verstarb ja leider schon im Jahre 601 an einer schweren Lungenerkrankung, die niemand zu heilen vermochte.
Von seinem Weib, der Gräfin Hildgard, ward seit der Flucht vor dem Scheiterhaufen nichts mehr vernommen. Zwar munkelt man, sie sei nach wie vor in der Nähe ihres Sohnes Hermann, doch gefunden hat man sie nicht. Vielleicht ist die vermeintliche Nähe doch wohl etwas weiter.
Graf Buodo ist leider auch nicht mehr unter den Lebenden. Verstorben ist er ohne fremdes Zutun, doch unter Umständen, die wenig ehrbar scheinen. Lästermäuler äußern hinter vorgehaltener Hand, er habe sich zu Tode gesoffen, weil er nach Guntberts Ableben für zweie trank. Ohnmächtig musste seine Familie diese Entwicklung mit ansehen. Sein Sohn hat das Erbe angetreten und obwohl dieser mit Hermann viel Zeit der Jugend verbrachte, herrscht nicht ein ähnliches Verhältnis, wie zwischen den Vätern. Die Beziehungen der jungen Grafen sind ein wenig eingeschlafen.
Hermann ist jetzt Herr auf Lanczengeseze. Sein Weib, eine ehemalige Küchenmagd aus Buodingen, hat ihm zwei Kinder geschenkt. Ein Mägdelein, noch zu Lebzeiten Guntberts, und einen Knaben zwei Jahre später. Dieser verstarb leider, bevor er noch ein Jahr alt war. Er hat des Nachts einfach aufgehört zu atmen. Danach hat es für die Gräfin nicht mehr sein sollen, ein Kind zu empfangen. Seit jener Zeit wird die Tochter von ihrem Vater sehr männlich erzogen und ihr ganzes Wesen hat mit der Zeit das Weibliche innen wie außen abgelegt.
Von örtlich größerer Bedeutung aber ist die Entwicklung Magdas zu nennen. Zusammen mit Karl, ihrem, von Zwergenkönig Sigurd angetrauten, Gemahl, hat sie sich zunächst auf dem kleinen Gut, das ihr von Hermann als Wiedergutmachung für erlittene Notzucht überlassen wurde, nieder gelassen. Schon im folgenden Jahr kamen die Zwillingsknaben Odo und Rudwin zur Welt. Es folgten Magnus und Markward drei Jahre später. Bis dahin konnten Karl und Magda ihr Vieh prächtig vermehren. Weil viele Menschen sich nicht in den Berg zu den Zwergen trauten, wickelte vornehmlich Magda die meisten Geschäfte für die Grafen und freien Bauern ab, die sich solch teure Anschaffungen leisten konnten. Die metallenen Ackergeräte waren begehrt, denn sie waren weitaus haltbarer als das, was die Menschen selbst herstellen konnten. Solchen Handel ließ sich Magda gut entlohnen. Ebenso vermittelte sie Gespräche mit den Halblingen, war sie doch, abgesehen von ihrer ersten Tochter Beata, die Einzige, die ein Halblingsdorf betreten konnte und durfte.
Auch aus den zunehmenden Händlerzügen auf der Straße zogen die Beiden großen Gewinn. Gerne hielt man Einkehr in Magdas Schenke oder nahm sogar Herberge des Nachts. Weit über die Grenzen des Chynzychtals schon reichte der gute Ruf, den sich Karl und Magda verdienten. Sie wurden so vermögend, dass sie weiteren Grund hinzu erwerben und nun eine ganze Hufe ihr Eigen nennen konnten. Vor zwei Jahren dann starb Karl bei einem Unfall. Eine grobe Unachtsamkeit beim Baumfällen kostete ihn das Leben. So lernte die kleine Methildis nie ihren Vater kennen, als sie vier Monate später das Licht der Welt erblickte. Mit Hilfe der großen Jungen konnte Magda ihr Gut erhalten. Not kannte die Familie nicht.
Auch wenn der Umgang mit Eringus im Laufe der Zeit stets geringer wurde, verblieb ihr doch der Ruf der Botschafterin, den sie sich einst in Lanczengeseze erworben hatte. Ihre Kinder gehen mit dem Drachen so um, wie alle anderen auch. Sie hören zwar gerne die Geschichten, die ihre Mutter von dieser Zeit zu erzählen weiß, doch eine besondere Beziehung zu Eringus entsteht dadurch nicht. Aber stolz sind sie alle auf ihre Mutter. Sie war und ist nun mal etwas Besonderes.
Natürlich sind die vergangenen Jahre nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Nicht nur die Schwangerschaften haben ihr Äußeres verändert, auch die schwere Arbeit trug ein gutes Stück dazu bei. Heute ist sie deutlich fülliger aber auch weiblicher als früher. Das Haar ist grau geworden, der Rücken macht zunehmend Probleme. Sie ist nicht mehr ganz so gewandt, doch wen wundert das. Trotzdem wagt es keiner, sich mit ihr anzulegen. Ihr Kampfstock ist ihr ständiger Begleiter und sie weiß ihn immer noch gut zu nutzen. Sogar einen Bären hat sie damit in die Flucht gejagt. Ein sehr derber Hieb auf die Schnauze war für das Tier so unangenehm, dass es lieber das Weite suchte. Kein Wunder, übt sie doch täglich, so wie es ihr von Melisande beigebracht worden ist. Schon viele Bäume hat sie mit ihrem Stock als vermeintliche Angreifer geschlagen. Und bei der Baumobsternte ist so ein langer Stab stets ein gutes Hilfsmittel. Der morgendliche Rundlauf um das Gut dauert zwar immer länger, doch wird Magda nicht müde, auch diese Übung täglich fort zu führen.
Beata ist auch etwas Besonderes für ihre Halbgeschwister. Nicht nur, weil sie von einem anderen Vater stammt und unter gewaltsamen Umständen gezeugt wurde. Nicht nur, weil sie von einem Drachen beatmet und ins Leben geholt oder weil sie von einer Zwergenamme gesäugt wurde, während Magda doch die weiteren Kinder später selbst stillen konnte. Und auch nicht nur, weil sie eigentlich immer nur ab und an zu Besuch kam und ansonsten dort lebte, wo sie gerade lernte. Nein, es war ihr ganzes Wesen, das sie vollständig verschieden machte. Doch das Wichtigste: Man hatte sich trotzdem lieb, denn ein innigliches Band der Zusammengehörigkeit erfüllte alle. Jeder Besuch von ihr war eine große Freude.
Wer an dieser Stelle auf gar keinen Fall vergessen werden darf ist Ob; Verzeihung Frieder. Für einen Halbling ist er jetzt schon als ein alter Mann zu bezeichnen. Tiefe Falten haben sich in sein wettergegerbtes Gesicht gegraben. Seine Zähne sind schlecht geworden, die Haare sind ausgefallen. Langsam werden die Augen trüb, doch der Geist ist wach geblieben. Seit Magda ihn damals aus seiner geistigen Umnachtung heraus geholt hat, hat er sein Lieblingswort >Ob< nur noch zum Spaß und stark betont benutzt. „Ob eine Amsel auch ein fliegender