Dieses Mal habe ich Professor Maus am frühen Abend zu mir eingeladen. Einen kleinen Weihnachtsstern überreicht er mir mit einem angedeuteten Diener. Mit seiner grün karierten Fliege sieht er aus wie ein Harlekin.„Um Himmels willen, nicht so förmlich. Bitte in Zukunft keine Besuchsgeschenke mitbringen, wir wohnen schließlich Tür an Tür.“
„Das ist nur für den Kuchen“ antwortet er.
„Genau das meine ich. Wenn einer was mitbringt, fühlt sich der andere auch dazu verpflichtet etwas zurück zu schenken, und das ist dann ein Kreislauf ohne Ende.“
„Na schön, dann nehme ich den Blumentopf wieder mit und stelle ihn auf meine Fensterbank.“
„Nun seien Sie nicht so kindisch. Ich nehme ihn gerne, aber in Zukunft bitte ohne. Spontan oder gelegentlich mal etwas mitbringen ist in Ordnung, aber ohne jede Verpflichtung oder Erwartung. Können wir uns darauf verständigen?“
„Gut, dann ist die Blume nicht für den Kuchen, sondern ganz spontan“ sagt er und grinst dabei.
Ich biete ihm den Sessel an, der direkt neben dem Tisch am Fenster steht und von dem man den Blick über den Balkon auf den Hafen hat. Am Geländer habe ich eine kleine LED Lichterkette befestigt, die ein harmonisches sanftes Licht erzeugt.
„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten oder möchten Sie lieber etwas anderes? Ich habe auch Wein im Angebot.“
„Tee? Ja, warum nicht. Gerne.“
Während ich den Tee zubereite, schaut er sich in meinem Zimmer um.
„Das sind ja sehr farbenfrohe Gemälde, die Sie hier an den Wänden hängen haben. Sind die selbst gemalt?“
„Nein, diese nicht, das ist naive Malerei aus der Dominikanischen Republik. Viele einheimische Maler sind dort noch von den Taino-Indianern, die ein zutiefst naturverbundenes Volk waren, beeinflusst. Diese Bilder hier sind Reste aus meiner damaligen Galerie. Lockern den manchmal tristen Lebensabend etwas auf und man wird nicht so schnell depressiv.“
„Ja, das stimmt. Sind zwar nicht unbedingt mein Geschmack, wenn ich das so offen sagen darf, aber sie passen sehr gut zu den hellen Möbeln – und zu Ihnen.“
Bevor er sich hinsetzt, geht er zur Balkontür und sieht hinaus ins Dunkel.
„Im Winter ist es sehr einsam da draußen am Hafen, aber im Frühjahr wenn die Segler alle zurückkommen, gibt es hier immer was zu sehen.“
„Ich weiß, das war ja der Grund warum meine Frau und ich dieses Haus für mich ausgesucht haben. Wir waren leidenschaftliche Segler und sind mit unserer kleinen Yacht oft in der Ostsee herum geschippert. Der Tee schmeckt aber sehr gesund.“
„Ist er auch. Schietwettertee aus vielen gesunden Kräutern. Anis, Minze, Hagebutte, Holunderblüten, Fenchel, Apfelstücke und vieles mehr. Sehr gesund, heißt aber nicht zwangsweise dass er ihnen schmeckt, oder?“
„Gewöhnungsbedürftig; und welche Kräuter züchten Sie da draußen unter dem Glasdach? So aus der Entfernung im Halbdunkeln sehen sie aus wie Hanfblätter, aber die möchte ich Ihnen jetzt nicht unterstellen, deshalb tippe ich mal auf Ahorn, japanischer Ahorn, der kommt dem am nächsten.“
„Falsch, Ihre erste Vermutung war richtig. Es ist Cannabis.“
„Darf ich?“ Er zeigt mit einer Handbewegung zur Balkontür, ist im selben Moment auch schon aufgestanden und öffnet diese. Ich trete mit ihm hinaus und öffne den Glasdeckel.
„Es gibt so viele schöne, gute und edle Kräuter und Pflanzen die einen Balkon verschönern können, was wollen Sie mit Cannabis?“
„Sehen doch gut aus, die handförmig geteilten Blätter mit den gesägten Segmenten an den Rändern.“
„Gewiss, ohne Frage, aber den nächsten Frost überstehen die Pflanzen nicht. Was haben Sie damit vor?“
Wahrscheinlich hält er mich für verrückt oder für eine alte Kräuterhexe.
„Was soll ich schon damit vorhaben? Es ist ja kein indischer Hanf. Die Samen meines Hanfes sind frei im Handel erhältlich und weisen einen nur ganz geringen Gehalt an THC dem T e t a h y d o…“
„Tetrahydrocannabinol“ korrigiert mich Professor Maus.
„Ja, oder so. Mit den lateinischen Namen habe ich so meine Probleme. Damit kann ich niemandem Schaden zufügen, das brauche ich Ihnen als ehemaligem Apotheker nicht zu erzählen. Das wissen Sie viel besser.“
„Allerdings, denn schon wieder muss ich Sie fragen, glauben Sie an Zufälle?“
„Und schon wieder muss ich Ihnen antworten, das ist keine Glaubensfrage. Allenfalls eine Bestimmung. Aber wieso fragen Sie das?“ Ich sehe, mein Tee hat ihnen doch geschmeckt, ihr Glas ist leer. Möchten Sie noch…?“
„Wenn ich ein Glas Wasser haben darf? Ich muss eine Tablette nehmen. Wieso kennen Sie sich so gut mit Cannabis aus und warum finde ich es auf Ihrem Balkon?“
„Nun stehen mehrere Fragen im Raum, die beantwortet werden wollen. Zuerst Sie, warum fragen Sie wieder ob ich an Zufälle glaube?“
„Es fällt mir schwer, es Ihnen zu sagen, aber was habe ich noch zu verlieren.“
„Egal was Sie mir jetzt erzählen, ich verspreche Ihnen, dass ich es für mich behalte“, sage ich und drehe einen imaginären Schlüssel vor meinen Lippen herum.
„Meine Frau war schwer erkrankt, sie hatte Krebs, unheilbar als es diagnostiziert wurde. Ich habe ihr die letzten schweren Stunden erleichtert. Medizinisches Cannabis gilt als Ersatz für Opioide und verstärkt die Wirkung von Morphinen. Eine Überdosis kann zum Atemstillstand führen. Weitere Einzelheiten möchte ich Ihnen dazu nicht erzählen. Der behandelnde Arzt hatte ohne weitere Fragen zu stellen den Totenschein ausgefüllt. Er wusste ja wie es um sie stand.“
Wir sitzen beide einige Sekunden oder Minuten schweigend am Tisch bis ich zu ihm sage: „Danke für die Lehrstunde. Wir sind zwei Seelenverwandte die sich zufällig gefunden haben. Ich habe bei meinem Mann auch nachgeholfen – er war aber nicht krank.“
Einen kurzen Moment sagt er nichts und schaut mich nur kritisch, fast vorwurfsvoll an.
„Nachgeholfen, wenn er nicht krank war? Das nennt man dann wohl anders“, sagt der Professor mit ernster Miene und seine tief braunen Augen sehen finster drein.
„In dem Fall nicht!“ sage ich energisch. Das Gewächs auf meinem Balkon werde ich morgen entsorgen, es hatte nur symbolischen Charakter, aber es ist wohl besser, wenn ich endlich einen Schlussstrich darunter ziehe. Wir haben beide nichts Schlimmes getan, nur das was aus der Situation heraus notwendig war. Es können zufällige Ereignisse im Leben geschehen, die einen in unvorhersehbare Richtungen abdriften lassen. Ich möchte Ihnen gerne eine Geschichte erzählen - wenn ich darf“, füge ich schnell hinzu.
Wir vereinbaren, das Gesagte erst einmal zu „verarbeiten und zu überdenken“, wie Professor Maus sich ausdrückt.
„Natürlich bin ich jetzt neugierig geworden und möchte wissen, mit wem ich es hier zu tun habe. Ob ich weiterhin in Zukunft Tee mit Ihnen trinken kann, oder Angst haben muss, dass Sie mich vergiften“, sagt er mit einem leichten Augenzwinkern.
„Zu Gift haben Sie ja wohl eher Zugang als ich“ erwidere ich und lächle ihn an.
Mit den Worten: „Am kommenden Sonntag, wieder bei mir“ verabschiedet er sich.
Der Wind pfeift eisig um meine Nase und ich ziehe mir die Kapuze meiner Daunenjacke noch über meine Wollmütze. Die See peitscht die Wellen an den Strand wo die Schaumkronen im Sand versickern. Die Flut hat viele Algen und Muscheln an den Strand gespült. Eine ausgewachsene und kräftige Silbermöwe steht bis zum Bauch im Wasser und kämpft gegen die Wellen an, um eine dicke fette Strandkrabbe heraus zu fischen. Ihr Schnabel rutscht immer ab, auf dem harten Panzer, der einen Durchmesser von mindestens drei Zentimetern hat. Die Krabbe versucht