So ganz allmählich kommt er wieder zur Ruhe. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns etwas verbindet. Ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt nur noch nicht was es ist. Ich schneide zwei Scheiben von der Biskuitrolle ab, lege sie auf unsere Teller, gieße uns den Kaffee ein, den er schon in eine Thermoskanne gefüllt hat und sage: „Na, dann erzählen Sie mir, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Wieso mache ich Ihnen Angst?“
„Glauben Sie an Zufälle?“
„Ich weiß es nicht, das habe ich mich auch schon oft gefragt. Es gab da mal ein Ereignis in meinem Leben, bei dem ich dachte, das sind ziemlich viele Zufälle auf einmal. Aber ich denke das ist keine Glaubensfrage. Wie kommt es, dass Sie so gut französisch sprechen? Ob es gut ist weiß ich natürlich nicht, weil ich der Sprache nicht mächtig bin, aber es klingt gut. Würden Sie mir bitte übersetzen, was Sie da eben gesagt haben“.
„Je ne sais quoi dire?“
„Ja.“
„ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Meine Frau war Französin und hat diesen Schokoladenbaum in der Weihnachtszeit immer für uns gebacken - und nun kommen Sie damit an.“
„Oh je, das tut mir sehr leid, aber ich konnte ja nicht wissen…“
„Schon gut“. Jetzt verstehe ich seine Reaktion und bin natürlich neugierig geworden.
„Wirklich viele Zufälle, die würden mich auch ins Grübeln bringen“ antworte ich und stehe auf, um mir die Fotografien in seiner Vitrine anzusehen, die hinter mir steht.
„Schmeckt Ihnen mein Kaffee?“
„Ja, hervorragend dieser Blümchenkaffee, ich mag ihn am Nachmittag auch lieber etwas dünner“ antworte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. Das hübsche Mädchen mit den langen blonden Locken, hat einen Blumenkranz im Haar verflochten und trägt ein weißes Spitzenkleid. Der junge Mann, der halb versetzt hinter ihr steht, trägt eine Fliege zum Anzug. Ein schwarz/weiß Foto mit gezacktem Rand in einem silbernen Rahmen. „Unverkennbar“ sage ich, „ist das Ihr Hochzeitsfoto?“
„Ja, das war im August 1968.“
„Ah, an die sechziger Jahre erinnere ich mich sehr gut. Das war die Zeit des Umbruches und der Gegensätze. Privat wie politisch. Einerseits rebellisch, revolutionär, aufsässig und inquisitiv, neugierig und bildungshungrig auf der anderen Seite. Anfang der sechziger Jahre der Mauerbau, zwei Jahre später der Besuch von J.F. Kennedy. „Ich bin ein Berliner.“ Dieses Zitat seiner Rede hat wohl niemand vergessen, und fünf Monate später wurde er erschossen.
Dann 1967 der Besuch des Schahs von Persien, mit seiner bildhübschen Frau Farah Diba. Der Grund für den Besuch des Schahs, hatte ich damals nicht begriffen und nur am Rande mitbekommen, dass große Demonstrationen und Aufstände in West-Berlin gegen den Staatsbesuch stattfanden, mit den anschließenden Krawallen der Aktivisten der Kommune 1 Bewegung. Daran müssten Sie sich doch auch noch erinnern.“
„Ja sicher, das waren Weltereignisse, aber zu dem Zeitpunkt waren wir nicht mehr in Berlin ansässig. Der Kuchen schmeckt übrigens ausgezeichnet, fast so gut wie der meiner Frau.“
„Da bin ich aber froh. Die Patisserie habe ich gestern in Hamburg zufällig entdeckt, während ich mit meinem Wagen einer Umleitung folgen musste. Aber bleiben wir kurz noch im Berlin der sechziger Jahre. Obwohl ich, wie ich bereits sagte, in Berlin aufgewachsen bin und wir in Kreuzberg, unweit der Mauer gewohnt haben, hatte ich das provokante Treiben der K1 Bewohner nur aus Radio und Fernsehen erfahren, denn diese Leute hielten sich nicht in unserem Stadtteil auf. Ich stamme aus einer kleinbürgerlichen Arbeiterfamilie und konnte mit de ganzen politischen Aktivitäten nichts anfangen. Es hieß zu Hause immer nur, halte dich fern von diesen Kiffern und arbeitsscheuen Kriminellen. Über Politik wurde bei uns nie gesprochen. Wenn ich mal eine Frage in diese Richtung gestellt hatte, bekam ich nur die lapidare Antwort, davon verstehst du nichts. Im Nachhinein weiß ich, dass es meinen Eltern peinlich war, weil sie selbst keine Ahnung von dem hatten, was da vor sich ging. Dinge zu hinterfragen, habe ich nie gelernt. Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich mein Elternhaus verlassen und mit einem Freund nach Hamburg gezogen war. Als unwissende, naive Berliner Göre in die große weite Welt, denn Hamburg war für mich unendlich weit weg. So wie heute New York. Die Worte meiner Stiefgroßmutter habe ich heute noch im Ohr: „Dann können wir uns ja vorstellen wo du landen wirst“, hatte sie gesagt.
„Und, wo sind Sie gelandet?“ „Nicht auf dem Strich, soviel kann ich schon vorweg nehmen. Ich war noch nicht volljährig und trotzdem haben meine Eltern mich gehen lassen. Eine Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin, haben sie mir nach meinem Hauptschulabschluss noch ermöglicht, weil ich lange darum gebettelt hatte. Mein Vater wollte mich in eine Fabrik zum Geldverdienen schicken. Was wollte ich als Frau mit einer Ausbildung, wenn ich sowieso bald heiraten würde. Meine Stiefmutter hatte sich letztendlich für mich stark gemacht. Das einzige Mal, wo sie etwas Sinnvolles für mich getan hat. Uns ging es finanziell wirklich dreckig, aber mein Vater hat seiner Frau nie erlaubt arbeiten zu gehen. Das war unter seiner Manneswürde. Vielleicht wollte sie auch nicht. Das ist auch etwas, was ich nie hinterfragt habe. Als Kind sowieso nicht. Später als Erwachsene Frau hat es mich nicht mehr interessiert.“
„Meine Mutter hat mir zwei Dinge ins Leben mitgegeben die durch nichts zu ersetzen sind. Liebe und Bildung. Sie war eine starke aber auch resolute Frau, von den Wirren des Krieges geprägt und immer für mich da, wenn ich sie gebraucht habe. Genau wie meine Frau. Ich brauchte wohl diese starken Frauen an meiner Seite um mich im Leben und in der Welt zurechtzufinden.“
„Wow, das nenne ich Charakterstärke, das zuzugeben. Und jetzt haben Sie mich – auf den letzten Metern zum Gipfel.“
„Das haben Sie aber nett gesagt.“
„Aber ich bin vermutlich nicht ganz so stark und habe viele Schwächen. Mögen Sie mir von Ihrer Frau erzählen?“
„Heute nicht mehr, vielleicht ein anderes Mal.“
Er weicht mir schon wieder aus.
Kapitel 4 - Cannabis
In der nächsten Woche sehen wir uns nur flüchtig beim Essen. Einige Damen, darunter auch Frau Kaiser, buhlen um Professor Maus, wie ich schon mehrmals beim Mittagessen bemerkt habe. Neuerdings lackieren sie sich die Nägel an ihren von Arthritis gezeichneten Fingern oder malen sich die Lippen an, und jede von ihnen sucht den Kontakt zu ihm. Ich gönne ihnen und ihm den Spaß, wenn sie nach dem Essen noch gemeinsam durch die Halle schlendern. Zur Essenszeit ist es nicht möglich, mit jemandem Kontakt aufzunehmen, der nicht am selben Tisch sitz. Jeder hat seinen festen Tisch und an jedem Tisch seinen festen Stuhl. Das lässt sich nicht anders regeln, weil es sonst Streitereien geben würde. Schlimmer als bei kleinen Kindern. Frau Kaiser sitzt bei Professor Maus am Tisch und ich zwei Tische weiter. Ab und an gibt es mal kleine Verschiebungen, wenn sich zwei Leute nicht grün sind, aber in den meisten Fällen ist die Platzzuweisung okay.
Das Veranstaltungsprogramm im Haus, das für viele Bewohner eine willkommene Abwechslung bietet - besonders für die älteren Damen und Herren, die nicht mehr so fit sind und sich nur noch mithilfe ihres Rollators fortbewegen können – interessiert mich nicht sonderlich. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit, Zauberkünstler, Weihnachtsbingo, Gospelchor und was sonst noch alles angeboten wird. Ich lese lieber ein gutes Buch, mache lange Spaziergänge oder schaue mir Krimis im Fernseher an. Das soll nicht heißen, dass ich mich grundsätzlich den Veranstaltungen entziehe, nein, bei den Lesungen in der Bibliothek oder guten musikalischen Darbietungen bin ich immer dabei. Die Beteiligung ist höchst unterschiedlich. Mal sind es nur zehn, manchmal sogar hundert Interessierte. Die Kräuter in meinen Balkonkästen, die ich im Frühjahr ausgesät hatte, sind etwas verkümmert, bis auf eines. Gott sei Dank weiß das Reinigungspersonal nicht wie eine Hanfpflanze aussieht. Die Pflanzen habe ich natürlich auf dem Boden des Balkons stehen und nicht in den Kästen die am Geländer hängen. Dort habe ich mir ein kleines Treibhaus gebastelt. Warum ausgerechnet Cannabis? Es hat für mich nur eine symbolische Bedeutung. Immer mehr keimt der Wunsch