„Na, mein Junge, dann komm mal mit in die Küche und Sie, junge Dame machen sich fertig. Wenn dann noch Zeit bleibt, sind Sie herzlich eingeladen, in die Küche zu kommen und noch eine Kleinigkeit zu essen. Muss ja nicht Schokoladenkuchen sein“, mit diesen Worten wandte sich Mrs. Ella um und verschwand in Richtung Küche. Marie sah Bill an und ging an ihm vorbei die Treppe weiter hinauf. „Ich würde mich freuen, Sie noch einmal zu sehen und da ich auch in den Park muss, könnte ich Sie begleiten“, rief Billy die Treppe hoch. Marie wandte den Kopf um: „Ja, vielleicht, ich weiß noch nicht richtig, wie es morgen wird.“ Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders und hatte die unausgesprochene Frage von Bill nicht richtig mitbekommen. „Wir sehen uns bestimmt noch“, antwortete Bill und verschwand in der Küche. Sie ist wirklich nett. Ich möchte bloß mal wissen, wohin eine Fremde in der Stadt heute Abend hingeht, wenn nicht zum Rodeoball, dann bleibt nur die Frage, mit wem? Allerdings geht man nicht einfach zu diesem Ball, wenn man nicht dazu gehört. Von hier ist sie jedenfalls nicht und auch nicht aus den USA. Muss mal Tantchen fragen. Sie weiß eigentlich immer alles, was in dem Tal vor sich geht.
Marie nahm die letzte Treppenstufe und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Bill hatte sie bereits vergessen, denn ihre Gedanken kreisten ausschließlich um das bevorstehende Treffen mit Paul. Sie überlegte, welches ihrer mitgebrachten Kleidungsstücke geeignet wäre, um als Ballkleid durchzugehen. Sie hoffte, dass es sich nicht um einen Ball im eigentlichen Sinne handelte, ihr schwebte eher so eine Art Square-Dance-Veranstaltung vor. Wenn sie in Deutschland Zeit und Geld hatte, ging sie gern auf Bälle und besonders der exklusive Münchner Opernball hatte es ihr angetan.
Männliche Begleiter standen ihr zahlreich zur Verfügung und auch Ballkleider hatte sie daheim im Schrank hängen. Aber wer nahm so etwas mit auf eine USA-Rundreise? Zu Hause hatte sie etliche Sommerkleider in ihre Reisekoffer geworfen. Nicht unter der Überlegung, wann sie diese anziehen wollte, eher: man weiß ja nie. Hatte sie das schmale schwarze Sommerkleid aus Seide eingepackt? Es war schulterfrei und das Oberteil bestand aus einer Seidencorsage. Der Rock fiel in drei Lagen übereinander und der Überrock bestand aus schwarzer Spitze und war unterhalb der Corsage tief angesetzt. Der Schnitt war raffiniert und dieses Kleid konnte gut als Ballkleid durchgehen. Das letzte Mal hatte sie es auf der Semesterabschlussfeier getragen und dann in die Reinigung gebracht. Der Schwung Kleider aus der Reinigung hatte zu Hause auf dem Bett gelegen und sie hatte in höchster Eile einige davon in ihre Koffer geworfen. Marie begann, ihre Koffer zu durchwühlen und hatte das Kleid kurz darauf hervorgekramt. Teuer war es gewesen, sehr teuer und sie hatte dafür viele Hamburger verkaufen müssen. Als sie das Kleid jetzt sah, freute sie sich und beglückwünschte sich, dass sie es eingepackt hatte und dass es völlig knitterfrei war. Wie lange hatte sie gezögert, bevor sie dieses Kleid kaufte! Jetzt war sie richtig froh. Was immer das für ein Ball sein mochte, sie war sicher, auf jeden Fall passend angezogen zu sein. Marie wusste, dass ihr das Kleid phantastisch stand. Es passte perfekt zu ihrer schmalen und zierlichen Figur und mit ihrer Sonnenbräune sah sie in diesem schwarzen Kleid einfach gut aus. Sie breitete es auf dem Bett aus, suchte ihre wenigen Schminkutensilien zusammen, entkleidete sich und duschte. Sie rubbelte sich trocken und zog sich ihre teuren Spitzendessous über. Auch hier, Glückwunsch fürs Einpacken! Sie schminkte sich, zog das Kleid über den Kopf und legte zum Schluss, als Abrundung des Kunstwerkes, karmesinroten Lippenstift auf. Das Haar schlug sie zu einem französischen Knoten zusammen und steckte ihn mit einem Kamm fest. Sie überlegte kurz, das Haar vielleicht doch lieber offen zu tragen, das würde auch perfekt zu diesem Kleid passen und sie fand ihre taillenlangen Haare schön, aber auch leider oft ziemlich unpraktisch. Deshalb steckte sie die Haare doch lieber zusammen, wie sie es fast immer tat. Sie war der Meinung, dass ihre Aufmachung für diesen Ball wohl reichen würde. Aber für Paul? Während sie diese Betrachtungen anstellte, hörte sie den Türklopfer an der Haustür. Nach einem raschen Blick auf die Uhr packte sie schnell ihre Tasche zusammen. Die war für einen Ball nicht so richtig gut geeignet, aber es ging nun mal nicht anders. Es klopfte an der Tür: „Hallo, ihr Besuch steht unten und will sie abholen. Sind Sie fertig?“, rief Mrs. Ella.
„Ja, ja, ich komme“, rief Marie, öffnete die Tür und wäre beinahe in Mrs. Ella hineingelaufen.
Mrs. Ella ging die Treppe hinunter und dabei unterhielt sie sich mit Paul: “Was machen deine Eltern, Paul? Ist Simon auch zu Besuch? Was hat er doch für eine reizende Frau!“
Inzwischen war auch Bill aus der Küche gekommen, um nachzusehen, was wohl los war: “Hallo Paul, wie geht es dir?“ Paul war es also, mit dem sie verabredet ist.
Paul blickte Bill an und wunderte sich, wo sein alter Freund aus den Kindertagen so plötzlich herkam. Er hatte nicht gewusst, dass Bill überhaupt in der Stadt war. Er war damals einfach verschwunden und Paul hatte gehört, dass Bill nach dem College zu den Rangers nach Cheyenne gegangen war und nun Detective Inspector war. Irgendwer hatte auch über ein Studium erzählt. War es Sabrina gewesen? Paul erinnerte sich nicht mehr genau.
„Ich glaube, Paul wusste nicht, dass du in der Stadt bist, Billy. Bill ist nur auf der Durchreise, denn er ist im Sommer der Chef der Police Rangers im Park“, erklärte Mrs. Ella nicht ohne Stolz.
„Glückwunsch, ja klar, ist schön für dich, dass du im Park sein wirst. Wenn du möchtest, komm doch einmal raus zu uns“, sagte Paul immer noch erstaunt. Während er sich unterhielt, versuchte er, Marie hinter Mrs. Ella zu erblicken. Er hatte diesem Augenblick entgegen gefiebert. Er gestand sich ein, dass er mit Herzklopfen hierher gefahren war und ununterbrochen an Marie gedacht hatte: Sie war in seinem Kopf ebenso wie in seinem Herzen, jede ihrer Bewegungen, jedes Lächeln hatte er sich immer wieder und wieder in sein Gedächtnis gerufen. Besonders gern erinnerte er sich an den kurzen Augenblick, als er Marie in seinen Armen gehalten hatte. In diese Augen zu blicken und dabei das Gefühl zu haben, sie nie mehr loslassen zu wollen. Für Bill, seinen alten Freund, hatte er im Moment nicht viel Aufmerksamkeit übrig. Er wollte, dass Marie endlich die Treppe herunter kam und er sie wiedersah. Noch eine Stufe, es war geschafft und Mrs. Ella gab endlich den Blick frei für das, was hinter ihr war. Marie schwebte hinter Mrs. Ella die Treppe hinunter, auch sie war gespannt auf Paul.
Paul erblickte Marie und ihm stockte der Atem. Sie sah hinreißend aus. Das schwarze Kleid umschmeichelte ihre schmale Figur. Ihr Haar glänzte und der tiefe französische Knoten im Nacken stand besonders gut zu ihrem schmalen Gesicht. Sie war zwar nur dezent geschminkt, aber Paul erblickte eine Schönheit.
Aber nicht nur Paul war bezaubert von dieser Erscheinung, auch Bill starrte Marie an. Er hatte noch nie eine so attraktive Frau gesehen, mit Ausnahme von Sharadon. Doch diese Frau war nett und freundlich, geradezu umwerfend charmant, wenn sie lächelte, wie in diesem Augenblick. Leider galt ihr strahlender Blick Paul. Die junge Frau schien sich nicht einmal bewusst zu sein, wie sie auf ihre Umgebung wirkte. Mit diesem Aussehen kannte Bill nur ziemlich eingebildete Frauen. Wahrscheinlich war es genau dieses Auftreten, was sie so unterschiedlich zu den hier ansässigen Frauen machte. Sein alter Freund Paul war fasziniert und konnte seinen Blick nicht von Marie abwenden. Nun sah Marie Paul an: “Hier bin ich. Hoffentlich haben wir noch genug Zeit zum Essen?“
„Selbstverständlich“, antwortete Paul und dachte, für dich habe ich alle Zeit der Welt. Marie nickte Bill und Mrs. Ella freundlich zu und reichte Paul ihren Arm, um zur Tür zu gehen. Paul löste sich aus seiner Erstarrung und öffnete die Haustür. Auch er lächelte Mrs. Ella und Bill zu, wünschte ihnen einen schönen Abend und nahm Maries Arm, um mit ihr zu seinem Auto, einem schwarzen Pick-up zu gehen.
„Viel Spaß. Könnte ich mich dem Essen anschließen?“, rief Bill ihnen nach. Er wusste genau, wie man Paul ärgern konnte.
„Du hast doch vorhin einen riesigen Berg Chili gegessen, Junge. Außerdem wollen die beiden sicherlich allein sein“, zwinkerte Mrs. Ella ihrem Neffen zu.
„Okay, war auch nur ein Scherz. Also viel Spaß zusammen. Vielleicht sehen wir uns nachher noch auf