„Ja, ich hatte vor, ihn zu kaufen“, sagte Paul gerade zu ihr, „Warum? Hast du etwas mit dem Pferd vor?“
„Ich habe Daddy gefragt, ob ich ihn haben darf und er hat nichts dagegen. Dich hat er doch abgeworfen, dann kauf ihn nicht“, lachte Jessie- Blue. Sie mochte Paul und hatte nie so ganz verstanden, was er an ihrer älteren Schwester fand. Aber sicher, Sharadon sah umwerfend aus und wenn sie wollte, konnte sie überaus nett und charmant sein.
„Ich würde ihn gern zureiten und sehen, wie weit ich ihn trainieren kann. Ich glaube, er hat großes Potential zum erstklassigen Rennpferd“, erklärte sie weiter.
„Das kannst du gern machen, aber ich kaufe ihn, ich habe schon die Anwartschaft bezahlt“, erwiderte Paul.
Paul mochte Jessie-Blue ebenfalls. Sie war offen, ehrlich und genauso pferdebegeistert, wie er selber.
„Na ja, aber wenn ich ihn zureite, dann kann Dad ihn auch kaufen,“ entgegnete Jessie.
Paul hatte eigentlich vorgehabt, dieses Pferd selber auszubilden, denn auch er war der Meinung, dass der Mustang ein gutes Rennpferd abgeben würde, wenn er mit Geduld und Liebe ausgebildet wurde. Er wusste, dass auch Jessie die Fähigkeit hatte, das Pferd zu trainieren und wettkampftauglich zu machen. Aber dennoch entschied er sich, dabei zu bleiben, das Pferd selber zu kaufen.
„Jessie, du weißt, ich mag dich sehr. Aber ich halte meine Option auf den Mustang aufrecht und kaufe ihn. Mein Angebot steht: Du kannst ihn ausbilden und trainieren. Wenn er mal rennt, wirst du mitverdienen. Nicht dein Dad, sondern wir beide. Ich halte dich für eine sehr gute Pferdekennerin und traue dir zu, ihn zu reiten und zu trainieren. Das kannst du Charles sagen.“
Jessie-Blue legte ihre hübsche Stirn in Falten. Sie überlegte, wenn Paul das Pferd kaufen wollte, dann hatte es wohl keinen Zweck, weiter mit ihm zu verhandeln. Aber das Angebot war gut. Sie mochte den Hengst und das war die wichtigste Voraussetzung, um das Tier zu reiten und auszubilden.
„Gut, wir machen es so. Ich komme dann in der nächsten Woche vorbei und kümmere mich um ihn. Dann müsstest du nur Hobie Bescheid sagen und dem Hengst einen Namen geben“, sagte Jessie.
„Prima, den Namen suchen wir dann zusammen aus“, erwiderte Paul.
Sie war sehr neugierig, was sich zwischen Paul und der schönen Unbekannten abgespielt haben mochte. Da war es sicherlich sehr interessant, demnächst öfter bei den McGreggans zu sein. Sharadon würde staunen, wenn sie ihr über diese Begegnung von vorhin erzählte. Jessie-Blue überlegte, ob sie ihrer Schwester von diesem Vorfall berichten sollte, doch sie mochte Paul und entschied sich deshalb, ihrer Schwester nichts zu sagen. Sie war mit Sicherheit nicht die Einzige gewesen, die dieses kurze Zwiegespräch der beiden beobachtet hatte. Bald würde das ganze Tal über Paul und die Unbekannte sprechen. Jessie lächelte Paul noch einmal zu und machte sich dann auf die Suche nach ihrer Familie. Sie wollte Dad fragen, ob sie heute Abend mit auf den Ball durfte. Denn mit ihren sechzehn Jahren wurde sie erst im nächsten Schuljahr ein Senior und leider war ihr Dad in bestimmten Sachen streng.
Paul ging zurück zu der Scheune, um den Kauf des Mustangs perfekt zu machen.
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Marie kehrte in die Pension zurück. Als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hochstieg, kam Mrs. Ella aus der Küche und sah zu Marie hinauf: „Wie war das Rodeo, Ms. Belandres? Haben Sie sich gut amüsiert? Ich würde ja auch hinfahren, wenn mir nur nicht meine Beine diese Probleme bereiten würden. Das ganze Tal ist jedes Jahr dorthin unterwegs.“
Marie drehte sich um und blickte auf Mrs. Ella hinunter: „Oh, Mrs. Henshaw, es war toll. Ich war ja bisher noch nie auf einem Rodeo und in Deutschland kennen wir das gar nicht. Diese Atmosphäre, diese vielen Menschen! Die Pferde, einfach umwerfend.“
„So, wie Sie strahlen, scheint es mir, als wäre noch mehr auf dem Rodeo passiert. Fast so, als ob Sie den Mann für Ihr Leben gefunden haben“, lachte Mrs. Ella.
Marie lief dunkelrot an. Sie fühlte sich regelrecht ertappt, wie bei einem Déjà-vu: „Also, das glaube ich eigentlich nicht, aber ich bin heute Abend zum Rodeoball eingeladen worden. Um halb sieben werde ich abgeholt. Oh Gott, ich muss noch überlegen, ob in meiner Reisekleidung etwas Passendes für den Abend ist.“
Jetzt lachte Mrs. Ella richtig laut auf: „Jeder weiß es, Mr. Paul hat eine Unbekannte, die anders spricht und auch besonders hübsch ist, zum Rodeoball als seine Begleitung eingeladen. Es gibt unter uns alten Klatschtanten kein anderes Thema.“
„Oh“, hauchte Marie erstaunt, “warum ist das so wichtig? Sicher, im Grunde kennen wir uns nicht und ich war ziemlich überrascht, aber ich freue mich auch sehr auf den Ball, so etwas habe ich noch nie erlebt und ich stelle es mir richtig amerikanisch vor. Paul heißt er also. Er ist sehr nett.“
„Das will ich wohl meinen. Sie gehen mit dem begehrtesten Junggesellen des Tals auf den Ball. Er ist ein Pferdenarr und guter Rancher. An sich gewinnt er jedes Jahr das Rodeo, aber in diesem Jahr wurde er wohl abgelenkt.“
„Das war mir nicht klar, ist auch eigentlich egal. Aber da war ein junges Mädchen mit blonden Haaren, das sich fast genauso gut im Sattel hielt, bei Pferd und Bulle.“
Ein Pferdenarr also, na, das konnte ja heiter werden. Hoffentlich wird sich die Unterhaltung nicht nur um Pferde drehen, dachte Marie. Sie hatte sich einem Pferd noch nie mehr als zehn Meter genähert und wollte das eigentlich auch nicht ändern. Sie hatte großen Respekt vor Pferden. Aber schließlich wollte sie nur auf einen Ball gehen, wenn auch mit dem verwirrendsten Mann, den sie je kennengelernt hatte und morgen sehr früh würde sie gleich zum Yellowstone Park aufbrechen.
„Ja, das wird die jüngste der Beringer-Töchter gewesen sein, Jessie-Blue. Ihr wird ein ähnliches Talent wie Mr. Paul nachgesagt. Sie ist ein nettes Mädchen. Aber was stehe ich hier und rede und rede. Wenn Sie mögen, können Sie noch ein Stück von meinem frisch gebackenen Schokoladenkuchen probieren. Dünn genug sind Sie ja. Und dann müssen Sie sich noch umziehen, es ist schon spät“, rief Mrs. Ella erschrocken aus.
Marie merkte, dass sie Hunger hatte: „Danke, sie haben recht, es ist schon sehr spät. Aber ich habe Hunger und ein Stück Kuchen wäre prima, obwohl wir noch zu Abend essen wollen.“
Plötzlich rief vom anderen Ende des Flurs eine männliche Stimme: „Ein Stück Schokoladenkuchen? Da nehme ich auch ein Stück.“ Über den Flur kam ein Mann auf Marie zu und blickte zu seiner Tante über die Balustrade hinunter.
„Billy, dass du auch ein großes Stück möchtest, ist klar“, lächelte Mrs. Ella liebevoll hinauf. Der Mann, Bill, lief den oberen Flur zur Treppe entlang und wäre fast in Maries Armen gelandet, als er schwungvoll die Treppenstufen hinunter rennen wollte. So blieb er überrascht stehen und blickte in Maries freundliches Gesicht. Marie glaubte, einen der anderen Gäste vor sich zu haben.
„Darf ich vorstellen, mein Neffe, William Henshaw, Bill. Er besucht mich gerade und ist auf dem Weg zum Yellowstone Park. Er wird dort als Police Ranger arbeiten, Bill ist bei den Wyoming Police Rangern in Cheyenne“, erklärte Mrs. Ella, sichtlich stolz. Police Ranger im Yellowstone Park war ein begehrter Job und Bill musste schon einiges vorweisen, um dort arbeiten zu können. Bisher war Bill Detective Inspector bei den Police Rangern in Cheyenne gewesen. Das war er genau genommen noch immer, nur jetzt eben im Yellowstone Park und als Leiter des dortigen Stützpunktes.
„Yellowstone Park? Wie interessant. Dort möchte ich morgen früh hinfahren. Auf den Besuch in diesem Park freue ich mich, seit ich meine Reise geplant habe. Wenn ich mich nicht verfahren hätte, wäre ich auch schon dort. Aber jetzt sollte ich mich fertig machen“, sagte Marie mit Blick auf ihre Uhr.
„Also kein Stück Schokokuchen?